Falkenflug
(Wilhelm Castun)

Will man den Nostalgikern glauben‚ so lief doch alles bestens‚ es ging seinen sozialistischen Gang. Die DDR-Bürger hatten alle Arbeit‚ eine bezahlbare Wohnung‚ es gab keine Arbeitslosen‚ niemand mußte unter Brücken nächtigen‚ Bettler waren unbekannt. Die Grundnahrungsmittel waren ausreichend und billig‚ das Brot billiger als das Getreide. An Wäsche und Kleidung litt niemand Mangel‚ die Mode fertigte man selber. Für jedes Kind gab es Platz in der Krippe‚ im Kindergarten oder im Hort‚ die die Kollektiverziehung sicherten. Die Volksbildung war für viele da‚ vor allem für den Nachwuchs von Arbeitern und Bauern‚ der das Abitur erreichen konnte. Die medizinische Versorgung war fast kostenlos und meist ausreichend‚ wenn man nicht gerade an Asthma litt. Es gab sozialistischen Kollektivgeist in Betrieben und Solidarität bei der Beschaffung gefragter Artikel im regen Tauschhandel. Nach Erkenntnissen der Zeitung »Neues Deutschland«‚ die noch immer existiert‚ war der DDR-Staat sogar noch besser als der Staat Utopia‚ den Thomas Morus im 15. Jahrhundert erfunden hatte. Die Republik war gut für die vielen‚ die sich anpaßten und akzeptierten‚ daß man auf sie aufpaßte‚ damit sie nichts falsch machten‚ die brav ihre Arbeit taten und den Parolen der SED nicht widersprachen.
In den fünfziger Jahren setzte die SED mit der FDJ die Tradition der Bündischen Jungend und der späteren Hitlerjungend mit gewissem Erfolg fort. Wandern‚ Lagerfeuerromantik‚ Volkslied und Gitarrenklänge. Schon in dieser Zeit gab es Konflikte mit den Anhängern des Rock'n Roll‚ und die Gefängnisse überschritten nur deshalb nicht ihre Kapazitätsgrenzen‚ weil regelmäßig ein breiter Strom nach Westberlin und in die BRD abfloß. Nach dem Mauerbau kam der Generationskonflikt nicht zum Erliegen. Die SED gab meist halbherzig und nach langem Zögern dem Drängen der Jugend nach‚ die sich nicht an den Idealen orientierte‚ welche die Partei gern gesehen hätte. So war die Haarlänge jahrzehntelang ein Thema‚ und jeder zusätzlicher Zentimeter mußte erst in den Großstädten und dann in der Provinz erkämpft werden. Ähnlich war es mit der Jeansmode‚ wo die DDR sogar ein eigenes Modell entwickelte‚ das aber gegenüber dem Vorbild so knausrig ausgelegt war‚ daß es für Spott und Verachtung sorgte. Durfte man in den sechziger Jahren mit solchen Hosen in keine öffentliche Schule kommen‚ so war die Hose Mitte der Siebziger nur noch bei Prüfungen tabu.
Die meisten Oppositionskarrieren begannen mit einer kleinen Zeitverschiebung. Es wurde eine Toleranz ertrotzt‚ die zwar wenige Jahre später gewährt wurde‚ aber nicht zu dem Zeitpunkt der Forderung. Die Probleme eskalierten‚ weil die Tabuverletzer nach der Aufhebung des Tabus nicht etwa rehabilitiert wurden‚ sondern als Widerspenstige von Freiheiten beraubt wurden‚ die vorher allgemein vorhanden waren‚ und das Konfliktpotential damit stetig zunahm. Es entstand eine breite Jugendopposition in der DDR.
Aus der Rückschau betrachtet eine klassische Tragödienexposition. Zunächst läppische Mißverständnisse‚ die sich hochschaukelten. Dabei trifft die Verantwortung natürlich die Älteren‚ denn Jugendprotest ist ein zeitloses Phänomen‚ der Langmut‚ Phantasie und Verantwortungsbewußtsein bei den Mächtigen erfordert. Politisch war die Jugendopposition in der DDR naiv. Statt ihr mit Aufklärung zu begegnen‚ wurde sie dämonisiert‚ und die Lösung bei Gewalt und Disziplinierung gesucht. In Sachen Deeskalation wurden die Sicherheitsorgane der DDR niemals geschult.
Es entstanden schließlich völlig konträre Sichtweisen auf die gesellschaftliche Realität. Während die einen den Staat so wahrnahmen‚ wie ihn heute der Nostalgiker schildert‚ nahmen jene‚ die mit dem Staat in Konflikt geraten waren‚ ihn als ein einziges Zuchthaus und als eine Ausgeburt des Verbrechens wahr. Zerrbilder beides‚ aber von höchst unterschiedlichen Konsequenzen. Denn während das eine behagliches Älterwerden erlaubte‚ führte das andere oft in ein Martyrium. Ein solches wird in dem Roman höchst authentisch geschildert. Ein begabter Sohn aus einer Pädagogenfamilie gerät in eine Entwicklung‚ die schließlich mit dem gewaltsamen Tode endet. Zunächst sind es kleine Zurücksetzungen. Arbeiterkinder sollten bevorzugt werden‚ was oft dazu führte‚ daß Kindern‚ deren Eltern der Schicht der Intelligenz zugeordnet wurden‚ nicht studieren durften. Dann wollte der Junge Seemann werden‚ dem stand aber entgegen‚ daß eine Oma im Westen lebte. Die ersten Wunden werden niemals geheilt und schwären unter der Oberfläche fort. Die Oberfläche sind längere Haare‚ als gerade tragbar angesehen werden‚ geflickte Jeans‚ die von Behörden als Provokation empfunden werden‚ musikalischer Geschmack‚ der als Ergebnis von Feindpropaganda eingeschätzt wird‚ und die Neigung‚ Ansammlungen von Jugendlichen aufzusuchen‚ die ähnlich sozialisiert sind. Kurzum‚ ein staatspolitischer Notstand!
Aber es kommt noch dicker. Als sein bester Freund mit seinen Eltern in den Westen übersiedeln darf‚ hält er diesem die Treue‚ obwohl der sich doch unzweideutig gegen Frieden und Fortschritt entschieden hat. Nun sind die Bande der Fürsorge durchschnitten‚ und der Staat greift zur nackten Gewalt. Die Rebellion wider Willen wird zur Tragödie.
Heinz Voigt schrieb über das Buch in der Zeitschrift »Horch und Guck« in Jena: »Ja‚ so war es in den siebziger Jahren. Da gab es in jeder Stadt diese herrlichen Typen‚ die sich nicht anpaßten: Schulterlanges Haar‚ Jeans‚ Hard-Rock-Fans‚ hochintelligent‚ trinkfest und voller Lebenslust‚ beständig Ärger erzeugend‚ zumeist bewußt provoziert. Seht her‚ das ist unsere Antwort auf das Eintöniggrau des Landes! Verständnis ernteten sie nur selten‚ weil auch die Masse dieses ´asoziale Verhalten´‚ diese Aussteigermentalität‚ nicht begreifen konnte und wollte. Asozial war schon ein Schimpfwort in der Nazizeit. Solcherart Leute gehörten ins KZ‚ und das war die Meinung vieler‚ die fleißig ihrer Arbeit nachgingen und trotzdem am Abend vor dem Westfernsehen hockten.«
Man muß dazu sagen‚ daß die Regelverstöße in der DDR sehr viel maßvoller ausfielen als vergleichbare Dinge in Westeuropa und Nordamerika. Aber sie stießen nicht auf ein flexibles Establishment‚ sondern auf eines‚ daß mit dem Rücken zur Wand stand und wie ein verwundeter Löwe regierte. Das intelligent komponierte und lebhaft geschriebene Buch führt die dunkle Seite der DDR gerade auch dem Westdeutschen anschaulich vor Augen. Die menschlich anrührende Geschichte stellt eine notwendige Korrektur akademischer Diskussionen über Planwirtschaft und Staatsräson dar.

Rein‚ Gisela/ Irmscher‚ Claus: Falkenflug. Eine verlorene Jugend in der DDR. Tatsachenroman. 2008. 209 S. ISBN 978-3-9810125-6-9 Espero Verlag Kt. 12‚– €

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