Das russische Gewicht
(Dieter Wolf)

Je tiefer jemand mit der Schaufel ein Loch in den Boden gräbt‚ umso tiefere Gedanken macht er sich. Geheimnisvolle Dinge befinden sich in der Tiefe. Durch einen Tiefschlag‚ einen Tiefenrausch‚ der einem Höhenrausch gleichen kann‚ können wir überrascht werden. Das schwere Los mancher Deutscher Romantiker zeigte‚ wie leicht ein Tiefenrausch zu völliger Handlungsunfähigkeit führen konnte‚ so daß selbst die Tiefenpsychologen keinerlei Rat mehr wußten. Aber in diesem Fall lag alles ganz anders. Es handelte sich um eine Form von russischem Roulett von ganz besonderem Gewicht‚ also einer Sonderform slawischer Romantik. Siegfried Schubert war ein geringfügig Beschäftigter‚ der durch einen Anruf eines Mitarbeiters des Landratsamtes mit einer Schaufel in die Grimmelallee in Nordhausen beordert worden war. Seit vier Stunden grub er in der Erde. Neben der Hauptwasserleitung verlief angeblich ein Kabel der Telekom sowie ein weiteres Kabel unter der Straße‚ von dem niemand wußte‚ was es war. Des weiteren befanden sich im Erdreich‚ so wurde gemutmaßt‚ die Reste einer alten Gasleitung. Wissen ist ja eine wahre‚ mit einer Begründung versehene Meinung‚ wenn es mit rechten Dingen zugeht. Aber in unserer Zeit können sich immer weniger mit der Zusage abfinden‚ alles ginge mit rechten Dingen zu. In diesem Falle handelte es sich‚ wie sich bald herausstellen sollte‚ bei allen Angaben um reine Vermutungen‚ möglicherweise verursacht durch die Signaturen geistiger Verzwergung in der Bürokratie oder aber verursacht durch eine bewußte Täuschung‚ damit die Welt der monetären Objekte und Zeichen weiter behelfsmäßig existieren konnte‚ wie sie nun einmal inzwischen beschaffen war. Siegfried Schubert mußte das Loch per Hand mit der Schaufel graben‚ weil die beauftragte Firma sehr viel höhere Kosten veranschlagen würde‚ wenn sie nicht mit dem Bagger arbeiten konnte. Bis Montag sollte alles ausgeschachtet sein‚ entsprechend der gekennzeichneten Abmessungen. Immer wieder rutschte Erde von den Rändern nach‚ das Unterfangen glich einer Sisyphusarbeit. Der Fluch Griechenlands hatte nun also auch im Südharz Einzug gehalten. Wenn es einen Momentanismus der Lust gibt‚ so gibt es gewiß auch einen Momentanismus der Unlust. Das nachrieselnde Erdreich erzeugte bei Siegfried Schubert eine Weise von Unlust Erde zu schaufeln‚ die die Kraft fände‚ Äonen von Jahren anhalten zu können‚ doch immer wieder packte ihn der Ehrgeiz‚ sich gegen die rieselnde Welt zu stemmen. Mit Vernunft oder Rationalität hatte dies nichts mehr zu tun‚ jedenfalls nichts mehr in einem allgemeinen Sinne. Siegfried Schubert hatte sich umschulen lassen zum Landschaftsgärtner‚ weil es einmal hieß‚ für die blühenden Landschaften würden Gärtner gebraucht. Tausende wurden ausgebildet‚ aber kaum einer bekam ein Arbeitsangebot. Schließlich wurde er Ingenieur für Gartenbau‚ auf Anraten des Arbeitsamtes. Die Ergebnisse bei seiner Arbeitssuche verliefen ähnlich trostlos. Doch die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis gehören ja bekanntlich zusammen‚ und so fügte er sich in sein Schicksal‚ und tät er es nicht‚ wie Nietzsche vor langer Zeit so treffend schrieb‚ müßt’ er es doch. Aber was war schon Arbeit! Als Gartenbauingenieur am Freitagvormittag im Hochsommer auf der Mitte einer Straße mit einer Schaufel ein großes tiefes Loch zu graben war ja im Grunde eine atypische Beschäftigung‚ es ging nicht um das Pflanzen eines Baumes‚ doch das Graben in der Erde war ihm vertraut. Immerhin war es Heimatboden‚ und die Bodenständigkeit war im Innersten bedroht. Ausgerechnet er war einer von nur sieben seiner alten Schulklasse‚ die geblieben waren‚ alle anderen waren dem Ruf der Ferne gefolgt. Der Verlust der Bodenständigkeit entstammte dem Geist des Zeitalters‚ in dem alle ständig umherreisen sollten‚ einem Zeitalter‚ in dem alles und alle wie Schachfiguren hin- und hergeschoben wurden‚ in dem Waren und Menschen wie Fischschwärme durch die Tiefsee der Meere dirigiert wurden. Dabei klangen die Worte des Mitarbeiters des Landratsamtes am Telefon tröstlich: »Dein Tun entspricht vorbildlichen ökologischen Regeln. Outsourcing ist das Stichwort‚ Siegfried‚ du brauchst heute die Hecken nicht weiter in den Grünanlagen schneiden‚ du wirst abdelegiert zum Straßenbau!« Siegfried war sich gewiß: »Der Aufschein einer immer kruder werdenden Lebenswelt brach sich Bahn‚ selbst die digitale Bohème blieb über kurz oder lang davon nicht verschont. Über fast allen in der freien Wirtschaft hing das Damoklesschwert. Nun hatte die Ausbreitung der informellen Ökonomie ihn an ein Loch auf der Straße verschlagen. Das Einkommen war zu gering‚ um ein Leben in Würde zu ermöglichen. Fast die Hälfte derer‚ die arbeiteten‚ schaffte es inzwischen nicht mehr‚ trotz eines harten Arbeitsalltags und oft mehrerer Jobs‚ am Ende des Monats alle ihre Rechnungen zu bezahlen. Oberflächlich betrachtet erschien es‚ als habe man sich verkalkuliert. Unternehmensgewinne und Stellenstreichungen gingen Hand in Hand.« Die Zeit verging. Siegfried grub und hing seinen Gedanken nach: »Ein tiefes Loch zu graben heißt zugleich‚ einem tieferen Auftrag zu folgen‚ denn was ist die Tiefe‚ so muß man ja fragen. Die Tiefe ist immer eine Reise ins Innere‚ eine Bewegung zu sich selbst‚ die Tiefe und der Umfang des Eindringens hängen davon ab‚ was man preisgeben will oder finden kann. Während die einen über die Zeit nachgrübelten‚ kauften die anderen Immobilien. Verräter und Opportunisten hatten für die Verstaatlichung der Katastrophe gesorgt auf dem Rücken eines ermüdeten Volkes. Ermutigungen gab es für Spekulationen jeder Art. Es hieß‚ jeder sollte sich den Platz verdienen‚ an dem er ist. Jeder hat nur‚ was er verdient. Jeder‚ der ins Abseits geriet‚ strandete dort‚ weil er es verdiente! Aber dies war natürlich ein Märchen‚ absentiert vom Diskursrauschen einer wabernden Medienwelt. Die obskuren Machenschaften‚ die dubiosen Geschäfte‚ die kriminellen Spekulationen besagten etwas anderes‚ denn die Losung einer kleinen‚ aber alles bestimmenden Schicht lautete: »Bereichert euch!« »Könnte«‚ so fragte sich Siegfried‚ »wenn schon die alte Bodenständigkeit verloren ging‚ nicht ein neuer Grund und Boden den Menschen zurückgeschenkt werden‚ ein Boden und Grund‚ auf dem das Leben neu zu gedeihen vermag? In die Tiefe zu graben war ehrbare Arbeit. Tiefsinn ist ja nicht mehr und nicht weniger als erinnerndes Denken. In der Tiefe‚ so heißt es‚ sei man gerüstet gegenüber den Nachstellungen der Gesellschaft‚ einer aus den Fugen geratenen Welt.« Siegfried Schubert grub tiefer und tiefer‚ aber weder irgendwelche Telefonkabel oder Stromkabel noch die Hauptwasserleitung wurden sichtbar‚ geschweige denn eine alte Gasleitung. »Entweder waren die Unterlagen falsch«‚ überlegte er‚ »oder die Grabungsstelle war falsch ausgemessen worden. Dies bedeutete nichts mehr oder weniger‚ die alte Ordnung würde am Ende fallen‚ ganz einerlei‚ durch Schlamperei oder gefälschte Karten‚ was ja nichts anderes hieß für die Zukunft als Folgendes: Die Welt wird sich von Grund auf ändern.« Doch bislang rieselten nur Sand und Erde von den Rändern nach‚ was das Tiefergraben immer mehr erschwerte. Da stieg es wieder in ihm auf‚ da war es wieder‚ dieses fluchbeladene Wort Okzident! Um wieviel schöner war es da im Orient‚ zumindest in der Phantasie. »Im Morgenland«‚ dachte Siegfried‚ »kam man zwar auch am Morgen zur Arbeit‚ nachdem man oft vom Abend bis zum Morgen gefeiert hatte‚ deshalb hieß ja vielleicht das Morgenland eben Morgenland‚ aber man arbeitete nicht bis zum Abend wie im Abendland. Mittags lag man im Palmenhain‚ rauchte eine Wasserpfeife und bis zum Abend erzählte man sich Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Der Rohstoff des Mutes ist nun einmal die Zeit‚ aber wer hatte heutzutage noch Zeit? Die Frage ist eben‚ wieviel Zeit man sich wofür nimmt. Andererseits mußte man ja auch von irgend etwas leben außer von Kokosnüssen. Aber wer wußte schon‚ wie es im Morgenland wirklich zuging?« Im östlichen Abendland jedenfalls sah es nach Feierabend aus‚ und da könnten Bergmannschöre im Erzgebirge noch so schön das Lied von Anton Günther singen‚ es blieb ein unbehagliches Feierabendgefühl. Wenig später schlug seine Schaufel gegen etwas Metallenes. Mit gemäßigter Neugier grub er weiter‚ vielleicht hatte er nun doch die Hauptwasserleitung erreicht? Drei Minuten später hatte er eine gewaltige Fliegerbombe der Royal Air Force freigelegt. Er nahm sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief im Landratsamt an‚ gerade in jenem Moment‚ als die Sonne ihren höchsten Stand dieses Tages erreicht hatte. Der Horizont der Gelassenheit kann sowohl beschränkt als auch unbeschränkt sein‚ ganz unabhängig von der Botschaft des Himmels. Als sich der Mitarbeiter des Landratsamtes meldete‚ sagte Siegfried kurz und knapp: »Ich habe etwas gefunden!« »Schön‚ schön«‚ sagte der Mitarbeiter‚ »wie sieht es denn aus?« »Es ist aus Metall‚ dick und lang und hinten hat es Flügel. Ich vermute‚ es ist ein Blindgänger aus dem 2. Weltkrieg.« »Wissen Sie was‚ Schubert? Es ist Freitagmittag‚ die Sonne steht ziemlich hoch und ich wette‚ Sie arbeiten ohne Mütze. Das ist ein altes Metallrohr‚ wahrscheinlich ein alter Badeofen‚ und Helmut Zinke‚ der alte Minenräumer‚ ist schon ziemlich lange außer Dienst‚ und zwar seit fünfzig Jahren. Wir machen hier gerade Feierabend‚ die meisten sind schon weg oder ohnehin im Urlaub. Die Sache ist ein Witz! Sie wollen mir wohl das Wochenende verschönern? Wissen Sie was‚ Sie Langohr‚ was da liegt‚ ist ein Badeofen und nichts anderes! Basta!« »Er hat aber Flügel‚ jedenfalls kleine Flügel!« »Haben Sie noch nie etwas von Design gehört? Baden beflügelt! Nehmen Sie doch den Badeofen einfach mit nach Hause! Damit wäre die Sache auch erledigt!« Siegfried schwieg. Es war wohl die Epiphanie des Augenblicks. Er spürte ein Leuchten vom Himmel auf sich zukommen‚ ein Leuchten aus einer anderen Welt‚ in der nicht alles gezählt wird‚ in der nicht allein das rechnende Denken das Leben bestimmte. Es dauerte Sekunden‚ bis Siegfried seine Sprache wiederfand‚ ihm selbst war es wie eine Ewigkeit erschienen. »Eine Frage hätte ich noch. Wie verhält es sich mit der Prosopopöie im Hinblick auf die Wasserwirtschaft?« »Die was?« »Die Prosopopöie! Die Personifizierung! Ich meine‚ wenn die Hauptwasserleitung bersten sollte‚ wen soll ich da anrufen?« »Ach Quatsch‚ ich muß jetzt weg‚ ich will Ihnen das mal so sagen: Die Sonne lacht‚ das Wasser heult‚ der Badeofen ist verbeult! Und tschüs!« Er hatte aufgelegt. Siegfried begann‚ nach einem Moment der Besinnung‚ weiter zu graben. Es ging um die Tiefe‚ die Tiefe des Raumes‚ er war der Schöpfer der Tiefe des Raumes. Beim Graben begann er nun laut vor sich hin zu reden: »Die heutige Verwaltung ist auf der permanenten Flucht vor dem Denken!« Ein Passant mit einem riesigen Bauch blieb neben dem Loch stehen. Es sah aus‚ als ob‚ wenn er in das Loch hineinfiele‚ er es mit seiner Körpermasse fast ganz ausfüllen könnte. Er fragte: »Wonach gräbst’n da unten?« Siegfried schaute nach oben und sagte: »Dies sind archäologische Grabungen von allererstem Rang‚ wir suchen nach einem Pudendum‚ einem urtümlichen alten russischen Gewicht aus der Zeit des Lükopodiums. Unser Amt hat hierfür das Prärogativ‚ das Vorrecht erhalten.« Der Dicke schaute mißbilligend herab und sagte: »Wer für einen solchen Blödsinn die Straße aufreißen läßt‚ sollte sich was schämen‚ überall wird gespart‚ nur bei euch Heinis schmeißt man das Geld zum Fenster raus!« Er beugte sich etwas vor und rief: »Da liegt es doch‚ das Gewicht‚ du Trottel! Beeilt euch bloß‚ damit am Montag dieses Loch zu ist‚ hier rollt nämlich straff der Verkehr auf der Grimmelallee!« Dann ging er davon. Manche Dinge in der Welt werden zu Gegenständen gefertigt‚ die Mißverständnisse geradezu herausfordern. Aber immerhin war Frieden auf Erden‚ jedenfalls in der Grimmelallee‚ möglicherweise vorerst. Unschwer war aus diesem kurzen Gespräch für Siegfried erkennbar geworden‚ wie fremd sich das rechnende Denken und das besinnliche Denken geworden waren‚ denn das besinnliche Denken konnte ja warten wie der Landmann auf Aussaat und Ernte‚ aber das rechnende Denken hetzte von einem zum nächsten‚ bis am Ende das Leben selbst seine Rechnung stellte. Siegfried war der Ansicht‚ und dies hatte er auch seinen Freunden erklärt‚ nach der dritten Flasche Spätburgunder: Die vollständige Auflösung der politischen Macht im Dienst an den Gütern und Güterwagen steht unmittelbar bevor‚ falsche Gewichte führten zum Ungleichwicht. Und jene‚ die rechnen konnten‚ billigten es. Aber das Leben war nicht billig‚ es wurde statt dessen immer teurer. Alles wurde immer teurer‚ um am Ende wertlos zu werden‚ so und nur so würde es kommen‚ bis nichts mehr fuhr‚ denn man ging schon lange nicht mehr‚ obgleich man durchaus Erfahrung hatte‚ aber was nützten die Erfahrungen‚ wenn man von höchsten Stellen lieber die Blindheit beschwor und zur Tugend erhob? Selbst die Bäume schienen ihm nun eine Verschiebung vom Denken zum schweigenden Akt vorzuziehen. Die Bäume der Stadt‚ die so viel erzählen konnten‚ sie schwiegen. Kein Windhauch bewegte die Zweige. Weit entfernt standen die Bäume und doch so‚ als entböten sie der entfliehenden Zeit ihr Geleit‚ den hastenden Zügen und Bahnen ein Adieu. Sie standen da in großer Gelassenheit. Und als er dastand und die entfernten vertrauten Bäume betrachtete‚ erwachte auch in Siegfried die Gelassenheit erneut. Siegfried rief seinen Freund Georg an‚ der kam wenig später mit einem Multicar. Mit einem selbstgebastelten Flaschenzug aus alten Maschinenteilen bargen sie das Ungetüm‚ luden es auf den Multicar und fuhren damit zu seinem Gartenhaus in einer Schrebergartensiedlung. Vorsichtig luden sie ihre gefährliche Fracht ab und schoben sie schließlich unter den Tisch in seiner Gartenhütte. Das Außenthermometer zeigte in der Sonne 38° Celsius an‚ und so setzten sie sich in die Hütte‚ kühlten sich ihre Füße am kalten Metall des Ungetüms unter dem Tisch‚ tranken Bier und eine Flasche Schierker Feuerstein. Fred kam mit einer Flasche Doppelkorn‚ er war der Gartennachbar von Siegfried und erzählte von Einbrüchen in die Schrebergartensiedlung in den letzten Tagen. Auch Siegfrieds Gemüse und Obst war schon häufig gestohlen worden‚ aber die zunehmende Zahl der Einbrüche war mehr als ärgerlich. Nach drei Runden Doppelkorn ging Fred wieder zurück in seinen Garten. Sich darauf einzulassen sich zulaufen zu lassen‚ war an diesem Tag nicht eine Frage des Wollens‚ sondern ein »Muß«. Es gibt Tage‚ an denen Ideen übermächtig werden‚ Ideen‚ die einen überkommen‚ von denen man nicht vermutet hätte‚ daß sie Macht über das eigene Denken gewinnen. Schnapsideen sind oft auch der Dimension der Tiefe verhaftet‚ und sie haben den Charakter von Offenbarungen. Durch das Gleiten- und Treibenlassen gerät der Spritist in den Strom der Dinge‚ mitten hinein in die Machenschaften der Menschen und Menschinnen. Aber nichts zu tun‚ sondern zu warten‚ erscheint ihm dann oft als widersinnig‚ und so ergreift er das Heft des Handelns. Siegfried und Georg verbrachten den Rest des Nachmittags mit dem Bau einer Konstruktion‚ bestehend aus einer Angelschnur und einem fünf Kilogramm schweren Hammer. Sollte jemand versuchen‚ von außen gewaltsam die Tür des Gartenhauses zu öffnen‚ dann würde der Hammer in einem kühnen Schwung auf den Zünder des Ungetüms unter dem Tisch hinabsausen und endlich einmal könnte Gerechtigkeit in einer Sonderform totaler Demokratie verwirklicht werden. Denn alle in der Gartenanlage waren sich einig‚ das mit den Einbrüchen mußte aufhören. Wenn jemand gewaltsam die Fenster öffnen würde‚ dann schlüge der Hammer ebenso mit ganzer Wucht auf den Zünder der Bombe. Aber Siegfried selbst konnte die Vorrichtung mit einem Seil entschärfen‚ welches er von außen durch ein Astloch zog. Von den anderen Gartenbesitzern wußte er schon lange‚ bei Einbrüchen weigerten sich die Versicherungen meistens zu zahlen oder überwiesen lächerliche Beträge‚ die den Schäden in keiner Weise entsprachen. Nun hatte er‚ wie er glaubte‚ eine eigene Ordnungsmacht erschaffen‚ eine radikale Macht‚ ohne Gerichtsverhandlung‚ härter als die Scharia‚ die Strafe folgte auf dem Fuße‚ sie folgte unmittelbar auf den Bruch des Gesetzes. Wurden einmal Einbrecher gefaßt‚ dann wurden sie stets wieder laufen gelassen‚ nur läppisch bestraft‚ weil sie angeblich eine schwere Kindheit hinter sich hatten‚ sie gehörten‚ so sagte man‚ zu den Benachteiligten‚ und so war die Sache erledigt. Aber manche hatten schon mehr als zehnmal in der Gartenkolonie eingebrochen‚ bestenfalls bekam man als Eigentümer gerichtlich bestätigt‚ daß man einen finanziellen Anspruch über drei Jahrzehnte geltend machen konnte‚ aber die Betreffenden hatten ja nie Geld‚ und somit war auch nie etwas zu pfänden. Es ging also um ein Exempel! Wahrscheinlich würde die ganze Gartenkolonie hinterher in Schutt und Asche liegen‚ aber es war dann in etwa auch so etwas wie der Zorn des Höchsten‚ aus der Tiefe der Überzeugung heraus. Ein Hauch von Scharia lag über der Kleingartenanlage‚ wer hätte gedacht‚ die Taliban würden ausgerechnet hier zuschlagen! Siegfried war sozusagen der Kopf der Taliban der Schreberkolonie. Es bestand eine Pflicht‚ sich zur Wehr zu setzen gegen Eindringlinge. Und auch Georg war Mitglied seiner Al-Kaida-Organisation‚ schließlich hatte er die Bombe mit hierher transportiert‚ da gab es kein Zurück. Wie wäre es‚ wenn sie sich beide Bärte wachsen ließen und um den Kopf ein Handtuch schlingen würden? Man hätte vor ihnen Respekt in der ganzen Stadt. Aber den Frauen würde es nicht gefallen. Oder vielleicht doch? Erst gegen Mitternacht wankten sie nach Hause‚ nachdem sie die Sprengfalle scharf gestellt und Türen und Fenster verschlossen hatten. »Worauf sollte man warten‚ und wo sollte man warten‚ in einer Zeit‚ in der viele nicht mehr wußten‚ wo sie sind und wer sie sind?« fragte sich Siegfried. In einer Zeit der Vergeßlichkeit‚ die wie ein Zauber über dem Land liegt‚ ahnt kaum jemand mehr oder verbirgt selbst die Einsicht‚ daß alles zu dem zurückkehrt‚ worin es ruht. Nachts kamen die Träume. Siegfried wähnte‚ Tagelöhner und Dauerpraktikanten zogen durch die Straßen der Stadt. Die Entsicherung des sozialen Lebens glich dem Scharfstellen einer Bombe. Die Flexibilisierten wirkten wie zurückgebliebenes Strandgut am Ufer des Flusses Zorge‚ dessen Namen man nun wie »Sorge« aussprach. Und die noch Gläubigen beteten zu Sanct Piecario. Dennoch: Die Gewinne von heute wurden die Arbeitslosen von morgen. Eine Armee der Überflüssigen entstand und an den linken und rechten Ufern des Flusses der Zeit türmte sich immer mehr Strandgut auf. Aber dann‚ von einer Nacht zur anderen‚ verschwanden die Träume. Alles kam anders als gedacht. Eines Morgens‚ nachdem vier Wochen vergangen waren‚ es war ein wunderschöner sonniger Samstagmorgen‚ kam Siegfried zu seinem Garten und sah schon von weitem‚ daß die Hütte aufgebrochen war. Zögernd blieb er vor der Tür stehen‚ dann trat er herein. Die Bombe war verschwunden als auch der schwere Hammer und ein halber Kasten Bier und sein Bratwurstrost sowie ein Stück Kupferdachrinne‚ die aus Plaste hatte man da gelassen. Die Anzeige bei der Polizei am Montag verlief deprimierend. Der Beamte versuchte die Sache herunterzuspielen: »Was‚ ein Badeofen‚ wahrscheinlich längst durchgerostet‚ ein Hammer‚ ein Rost‚ na gut das Schloß der Tür‚ ein Stück Kupferdachrinne‚ aber das gibt’s doch für zehn Teuro im Baumarkt.« Dann senkte er den Kopf und sprach mit gedämpfter Stimme: »Was den Bierkasten anbelangt‚ mein herzliches Beileid!« Das klang irgendwie echt. Schließlich sagte er: »Eine Anzeige lohnt sich gewiß nicht‚ da kommt sowieso nichts raus‚ das ist nur Papierkram!« Siegfried bestand auf der Anzeige. Der Beamte räusperte sich und sagte: »Übrigens‚ die Spurensicherung ist im Urlaub‚ auch unser Personal ist reduziert worden‚ aber ich schicke jemanden‚ der die Nachbarn fragt‚ ob sie etwas gesehen haben. Aber meistens hat niemand etwas gesehen‚ nicht einmal die Gartenzwerge.« Siegfried stellte sich vor‚ wie ein Beamter die Gartenzwerge verhörte. Sie benötigten keine Unterkunft‚ sie standen einfach in den Gärten. Auch sie hatten das Recht zu schweigen‚ denn das Walten ihres Wesens war geheim. Zwerge befanden sich ja meistens in typischen Gegenden‚ in Gartenlandschaften‚ dies schien ihnen entgegenzukommen und auch den Besitzern der Gärten. Sie waren kleiner als Menschen‚ sie besaßen eine umgrenzte Aussicht‚ ihr eigenes Aussehen war den Menschen vertraut‚ und vor allem: sie verkörperten das Entgegenkommende in einem ungeahnten Maße. »Die Zwerge«‚ dachte Siegfried auf dem Nachhauseweg‚ »sind ja im Grunde auch Wächter‚ aber warum hatten sie nicht eingegriffen? Auch wer klein ist kann Rache üben und kann sich gegenüber dem Offenen zur Wehr setzen. Nicht alles‚ was uns begegnet‚ verdient Akzeptanz. Es sind die Einredungen verlorener Zeit‚ die uns von den Vorteilen des Offenen überzeugen wollen‚ indem sie verbargen‚ daß ihre Einredungen nichts weiter als Sterbereden waren‚ Reden‚ die zu einem freiwilligen Sterben ermunterten.« Siegfried stellte sich vor‚ wie die Einbrecher mit einem simplen Kisteneisen seine Tür zur Gartenhütte aufgebrochen hatten. Wahrscheinlich war die Bombe nicht mehr scharf gewesen oder seine Vorrichtung hatte versagt. Vielleicht war auch alles besser so. Sicherlich hätte man ihn achtundvierzig Stunden verhört‚ um herauszufinden‚ weshalb dort‚ wo sich seine Gartenhütte früher befand‚ nun ein sechs Meter tiefer Krater war. Die Angelegenheit mit dem Badeofen zu erklären wäre nicht ganz überzeugend‚ für die Presse ginge es ja gerade noch so‚ aber die Polizei war in der Regel etwas hartnäckiger‚ ungläubiger‚ sie empfand geradezu Abneigungen gegenüber dem Staunen. Er stellte sich vor‚ wie die Metalldiebe alles auf einen kleinen LKW geladen hatten und davon gefahren waren. Metallhändler gab es ja genügend. Wahrscheinlich hatten sie die Bombe als metallenes Industrieteil ausgegeben. Man wog alles und damit war die Sache erledigt. Sie kassierten ein paar Scheine und alles war geritzt. Dann begaben sie sich auf den nächsten nächtlichen Raubzug. Bomben bekam man ja heute eher weniger zu Gesicht‚ und in der Industrie gab es Apparaturen‚ über deren Formen kaum jemand einen vollständigen Überblick besaß. Irgendwo‚ irgendwann würden wahrscheinlich die Metallteile eingeschmolzen werden. Recycling war eines der Zauberwörter der Zeit. Aber am schlimmsten war die Umverteilung. Die Chrematistik‚ die Anhäufung persönlicher Reichtümer‚ war die Leidenschaft weniger. Dies wäre ja kein Problem‚ wenn nur für die Mehrheit noch genug zum Leben bliebe. So gesehen waren die Einbrüche auch Verzweiflungstaten‚ aber dennoch ein schweres Ärgernis. Alles war auf seinen Zahl- und Marktwert reduziert worden. Das Geld war zum obersten Gesetz der Welt geworden. Die Spielernaturen hatten die Herrschaft der Welt übernommen‚ die Täuscher und Trickser‚ die Hütchenspieler auf höchstem Niveau‚ daher mußte man nun sparen‚ wo es kaum noch ging. Wie gesagt‚ es war eine verlorene Zeit. Aber schließlich nahmen die Dinge nun doch den in ihnen wohnenden Lauf. Wie alle Welt weiß‚ wird am Mittwoch die Woche geteilt. Jedoch an diesem denkwürdigen Mittwoch wurde noch mehr geteilt als üblicherweise an einem solchen Tag. Man kann das Brot teilen‚ den Wein‚ das Bett und vieles mehr. Manche Dinge versammeln sich in der Welt‚ gleich ob sich nichts ereigne‚ jegliches zu jeglichem und alles zueinander und alles durcheinander‚ um zu verweilen. Und doch gibt es Begegnungen‚ ein Bergen und Entbergen von Wesentlichem und Unwesentlichem. Es gibt sonderbare Begegnungen‚ wie jeder weiß‚ der das Leben ein wenig kennt. Die Dinge verweilen nicht ewig in der Welt‚ sie verwandeln sich‚ entsprechend ihrer Bestimmung. Manchmal ruhen sie und kehren nach langer Zeit zurück. Wie sich der Mensch im Inneren seiner Worte bewegt‚ so bewegen sich auch die Dinge im Innersten ihres Wesens. Irgendwann einmal hat das Warten ein Ende‚ und das Losgelassensein ergreift von uns Besitz wie auch von den Dingen‚ doch nicht in unerschöpflicher Weise‚ nur für einen Augenblick‚ der oft wie eine Ewigkeit erscheint. Wohl ist es so: Der Mensch gehört zu dem‚ worauf er wartet. Am Mittwoch genau um Zwölf explodierte ein Waggon der Deutschen Bahn‚ auf dem sich Metallschrott befand. Der Zug wurde in zwei Teile geteilt‚ der hintere Teil der Wagen blieb stehen und der vordere Teil fuhr weiter‚ so wie im richtigen Leben‚ die eine Hälfte war abgehängt und die andere fuhr weiter. Die Diesellok‚ die nur noch den vorderen Teil zu ziehen hatte‚ sparte an diesem Tag einen erheblichen Teil an Treibstoff ein. Der Lokführer hatte nichts bemerkt‚ weil er in seinem Führerhaus Heavy-Metal-Musik hörte‚ und einen kleinen Ruck gibt es immer einmal‚ wenn man mit einem langen Güterzug fährt. Ein riesiges Stück Eisenbahnschiene war jedoch unerklärlicherweise viele hundert Meter durch die Luft geflogen und hatte sich im Stadtpark Hohenrode wie ein Speer in den Boden gebohrt. Auch das scheinbar Unveränderliche sucht mitunter den Weg zur Veränderung. Und wieder ist der Aufenthalt in diesem Zwischen nichts weiter als ein Warten. Man sollte keinesfalls glauben‚ daß die Dinge niemals an sich selbst denken würden. Dieses Ereignis verlieh der Sache einen internationalen Nachrichtenwert‚ denn nach sorgfältigem Ermessen handelte es sich um einen Fall von Terrorismus. Man entschied nach landesweiten Diskussionen‚ die Schiene dort zu belassen‚ wo sie war und ein Mahnmal zu errichten‚ ein Mahnmal gegen den Terrorismus. Der »Point of no return« wurde an die Wand gemalt‚ jener Punkt also‚ an dem ein Aufhalten des Terrorismus nicht mehr möglich sei. Jetzt galt es zusammenzustehen‚ jetzt galt es‚ alles zu zeigen‚ was man hatte. Zweifellos war es ein terroristischer Akt gewesen‚ so las man in den Schlagzeilen. Man könnte es natürlich auch so sagen: Noch war die Bereitschaft zu täuschen und sich täuschen zu lassen nicht erlahmt. Insofern sollte nun alles‚ aber auch alles‚ dafür getan werden‚ keinerlei Sentimentalitäten aufkommen zu lassen. Leichtgläubigkeit war ein seltenes Gut geworden. Es sollte nicht leicht werden. Schon immer diente der vermeintliche Terror dazu‚ die Massen botmäßig zu halten‚ dies gehörte ganz einfach zur Systematik der Herrschaftstechnik hinzu. Die Gesetze des Schreckens legitimieren die Gesetze der Überwachung‚ die taktisches Instrument zweier Strategie-Pole waren. Die Propaganda zur Schreckenstat ermunterte nun zum Widerstand gegen die falschen Überzeugungen der üblichen Art. Wer wollte sich da entziehen! Wer wollte als vermeintlicher Feind des Guten erscheinen‚ als Verächter der Humanität und Freiheit? Der Wille sich blind zu stellen begann zu erlöschen‚ wie allerorten zu hören war‚ doch die Kunst des Sehens stellte sich nicht ein. Reden sollten gehalten werden‚ Reden‚ die Hoffnung spendeten. Ein Wettbewerb wurde ausgelobt. Die Fläche um die Schiene herum‚ die wie ein Stachel im Fleisch der Stadt wirkte‚ zu gestalten. Grandiose Vorschläge aus dem ganzen Lande wurden eingereicht‚ Ideen großer Virtuosität waren darunter. Auch Siegfried wurde ermuntert sich zu beteiligen‚ immerhin war er Gartenbauingenieur. Obgleich sein Vorschlag zweifellos der einfallsloseste war‚ das Anpflanzen roter Nelken in einem leicht ovalen Kreis rund um die Eisenbahnschiene‚ erhielt er am Ende den Förderpreis von zweitausend Euro. Schließlich kam der Tag der Weihe. Die Reden wirkten fad. Aber Erdachtes kann zu ungewöhnlicher Wirkmächtigkeit gelangen. Die Maulwerksburschen der Propaganda gaben sich reichlich Mühe. Was wirkmächtig gesagt wird‚ dies verschwindet auch nach seiner beweishaltigen Widerlegung nicht mehr aus der Welt‚ zumindest sehr oft. Das Laboratorium der konziseren Zeitungen drohte zu explodieren. Das Drama bestand darin‚ dem Terrorismus nicht nur einmal seine Meinung sagen zu müssen‚ sondern immer wieder‚ und dies ermüdete die Menschen. Entziehen konnten sich immer weniger diesem Ritual‚ sie mußten stets wiederholen‚ sie lebten in der besten Welt aller Zeiten. Das Amt teilte Siegfried mit‚ sein Preisgeld würde auf sein Hartz IV-Einkommen angerechnet werden. Jetzt war ihm klar‚ warum er den Preis bekommen hatte‚ es war die schlichte Möglichkeit der Einsparung. In gewisser Weise war dies ja auch verständlich. Die Suche nach dem Schuldigen verlief weitgehend ergebnislos. Verdächtigt wurde ein gewisser Olaf Porajmos aus Nordhausen‚ was natürlich völlig aus der Luft gegriffen war. Der Wind wehte viele Namen durch den Äther‚ aber nur manche wurden aufgegriffen‚ denn auch die Kultur des Denunziatorischen folgte ihren eigenen Gesetzen. Die Themen Prekarisierung‚ Postdemokratisierung‚ Cyberisierung gerieten in den Tageszeitungen weiter in das Hintertreffen. Immer mehr Leser sahen es so: Es gab erlaubte und unerlaubte Täuschungen‚ aber die unerlaubten hatten die Oberhand gewonnen. Gewiß: Enttäuschungen gehören einfach zum Menschsein hinzu‚ »mundus vult decipi«‚ die Welt will betrogen werden‚ aber das Ausmaß wurde immer unerträglicher. Die areana imperii gaben immer mehr Rätsel auf. Aufklärungen bringen im Leben Enttäuschungen mit sich‚ nur wer sentimental ist‚ macht sich Gedanken über die eigenen Phrasen‚ so sagten manche Selbstdenker. Es gibt Themen in der Geschichte‚ über die lange geredet wird‚ und es gibt Dinge‚ die man schnell vergißt‚ denn es gibt ja nicht nur einen Weltgeist‚ sondern auch einen Ortsgeist. Der Ortsgeist ist in der Regel ein Geist der Gelassenheit und praktischen Vernunft. Nach einiger Zeit beachtete niemand mehr das rostige Ding‚ welches im Boden des Parks steckte. Auch die mahnenden Reden waren längst vergessen. Eines Morgens war das Eisenteil verschwunden. Metalldiebe hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht es auszugraben‚ sondern einfach über dem Boden abgesägt. Die Zeiten waren eben hart. Geblieben war lediglich Siegfrieds ovales Blumenbeet‚ welches wie ein mahnendes Auge nach oben blickte‚ als wollte es sagen: »Watch the Skies«‚ behaltet den Himmel im Auge‚ als sei es ein Auge des Gesetzes.

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