Ein deutsches Requiem
(Dieter Wolf)

Dr. Wolf Kalz ist Historiker‚ Germanist‚ Politikwissenschaftler und Autor zahlreicher Bücher. Kalz setzt in seinem Buch »Ein deutsches Requiem« drei Schwerpunkte: Er unterbreitet die Entwicklung Preußens‚ er thematisiert das Ende des Reiches und er befaßt sich eingehend mit dem gegenwärtigen Niedergang der Bundesrepublik im Zeitalter der repräsentativen Demokratie. Sein Ansatzpunkt zur gegenwärtigen Situation lautet: Deutschland wurde von einer ideologisch untermauerten Schlaraffenideologie durchzogen und hat über seine Verhältnisse gelebt.
In Kapitel 1 wird der Frage nachgegangen: Was trug Preußen zur deutschen Nationalstaatsgründung bei? Richtig ist‚ das Haus Habsburg unterstützte zu keiner Zeit eine nationaldeutsche Reichsidee. Außer der Wahrung eigener Interessen hat es zur Festigung dieser nichts beigetragen. Kalz beschreibt‚ was zur Stärkung des Patriotismus beitrug: 1806 stellte sich Johann Gottlieb Fichte in den Dienst der Erhebung gegen die französische Despotie‚ berühmt wurde sein Werk »Reden an die deutsche Nation«. Wilhelm von Humboldt gründete 1809 die Berliner Universität. Das Schulwesen in Preußen wurde reformiert‚ die deutsche Pädagogik erlangte Weltruf. Die Schriften Kants gewannen wachsende Anerkennung und wurden wegweisend für den Fortgang der Wissenschaften. Der Deutsche Idealismus schlug seine Wurzeln in Preußen. Heinrich von Kleist gab mit seinem Werk über die Hermannsschlacht das Fanal zur physischen Befreiung von der französischen Okkupation. Ernst Moritz Arndt verfaßte das auf die politische Einigung aller Deutschen zielende Gedicht »Was ist der Deutschen Vaterland?« Und Freiherr von Stein formulierte: »Ich habe nur ein Vaterland‚ das heißt Deutschland. Nur ihm und nicht einem Teil desselben bin ich von ganzer Seele ergeben.« (1812). Immer mehr glaubten nun die »geistige Kraft« für die politische Befreiung zu finden‚ aber auch die militärische Kraft‚ wie Marschall Blücher schrieb. Kalz resümiert: Das Ergebnis der Befreiungskriege geriet zur Farce‚ das heißt zur Restauration der fürstlichen Internationale namens »Heilige Allianz« und zur Resurrektion des traditionellen deutschen Partikularismus. Umso mehr wurde Preußen Träger der deutschen Einheitsinteressen.
Das zweite Kapitel handelt von der britischen Gleichgewichtspolitik in Europa: »Zwar stand Englands Annäherung an Europa von vornherein nicht im Zeichen des Gebens‚ sondern des Nehmens‚ weshalb‚ als sich herausstellte‚ daß es in Europa weder etwas zu führen noch dermaßen viel‚ wie man erhoffte‚ zu holen gab‚ sich die Insel unter Premierminister Wilson schnell wieder vom ungeliebten »Continent« distanzierte… Sein bleibendes Interesse an Mitsprache bei gleichzeitiger Distanzierung blieb im großen und ganzen Englands bisheriger Beitrag zur Einigung Europas…« Zusammenfassend bewertet Kalz die Rolle Englands folgendermaßen: »Great Britain hielt stets auf distance. Seine historische Sendung bestand zumal darin‚ Europas Rang innerhalb des Weltgleichgewichts gründlich und nachhaltig zu zerbrechen – und dies namens seiner überholten europazentrischen Gleichgewichtsdoktrin‚ welche sich angesichts des weltpolitischen Wetterleuchtens eigentlich schon vor 1914 überlebt hatte.« In dieser Logik richtete sich britische Außenpolitik grundsätzlich immer gegen die jeweils dominierende Großmacht in Europa‚ welches Land es auch sei.
Kapitel 3 ist eine Auseinandersetzung mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am Ende des 2. Weltkrieges. Verglichen und bewertet werden zudem die Dispositionen von 1918 mit denen von 1945. Was 1945 anbelangt‚ so konstatiert Kalz u.a. zwei bedeutende Nebenfolgen: »Der Verlust halb Europas an die euroasiatische Weltmacht und Großbritanniens Sturz in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit waren Churchills Preis für den Sieg.« (S. 134).
In Kapitel 4 geht Kalz der Frage nach »Was ist des Deutschen Vaterland?« Die Geschichte wurde zu einem Pandämonium inkriminiert. Der Euphemismus der »Multikultur« dominiert. Kalz zitiert u. a. aus der Rede eines britischen Unterhausabgeordneten aus dem Jahre 1975‚ der folgendermaßen seine Landsleute beruhigte: »Die Westdeutschen machen gar kein Geheimnis daraus‚ daß sie nicht nur keine unabhängige Nation sein möchten‚ sondern daß sie sich geradezu davor fürchten. Die Europäische Gemeinschaft ist für sie eine Versicherung gegen sich selbst.« Und Kalz ergänzt: »In diesem Sinne erklärte dann auch der Kanzler der Einheit gleich nach 1989: »Die Einigung machen wir für Europa.« Jenen Deutschen aber‚ die in der Wiedervereinigung zunächst die Wiederbelebung eines deutschen Vaterlands vermutet hatten‚ denen brachte das System … bald gröblichst bei‚ daß sie da auf dem Holzweg waren.« (S. 163).
Kapitel 5 trägt die Überschrift »Feindselige Freundschaft«. Dieses Kapitel ist ein Resümee zur Kontinuität des französisch-deutschen Verhältnisses quer durch die Jahrhunderte‚ welcher der Autor bis in die Gegenwart nachspürt. Allenthalben heißt es‚ der Preis für die Einheit war die Preisgabe der D-Mark. Chirac soll dies verlangt haben und andere vor ihm auch. Dies ist richtig. Kalz zitiert aus einem »Magazin-Gespräch« den früheren Staatspräsidenten Giscard d’ Estaing. Das Interview ist nachzulesen in der FAZ vom 17. März 1997. Falls die Währungsunion scheitert‚ »werden wir nicht nur starke Erschütterungen an den Finanzmärkten erleben‚ sondern auch etwas für uns sehr Peinliches: Die internationalen Märkte werden wahrnehmen‚ daß es eigentlich bereits eine europäische Währung gibt – die D-Mark.« Kalz kommentiert dies so: »Wie üblich ignorierte Bonn dergleichen Feststellung und zerrte unverdrossen‚ ja freudig‚ den Eurokarren über Stock und Stein quer durch alle Konvergenz- und Finanzierungssümpfe. Auch erfuhr der Bürger‚ daß der nun im Ausgleich zu der französischerseits zähneknirschend hingenommenen Wiedervereinigung entworfenen »Euro« in Deutschland eigentlich nur staatsstreichähnlich durch Oktroy durchzusetzen war. Das System erwiderte jedenfalls den ihm von seinem Volk erteilten Kredit nicht‚ schenkte ihm kein Vertrauen‚ hat es doch schon im Grundgesetz sein dem Volk gegenüber jederzeit latentes Mißtrauen instrumentalisiert‚ weil dem‚ das sei die Lehre von Weimar‚ in Referenden zu so substantiellen Fragen wie etwa Europa‚ Euro oder Osterweiterung sowieso nicht über den Weg zu trauen sei. Mißbrauch sei immer im Verzuge.« (S. 170). Und was die Franzosen anbelangt‚ so schreibt Kalz: »Die Franzosen sind keine Ökonomen‚ sondern Politiker‚ sie denken taktisch‚ und für Taktiker ist die Schwächung des Gegners allemal eine gute Sache… Diese Ausgangslage feindseliger Freundschaft ist keine sonderlich gute‚ und sie führt zu den sich immer wieder einstellenden Verstimmungen zwischen Paris und Berlin‚ die dann durch grandiose Gesten der Versöhnung – sei es im Handschlag auf den Schlachtfeldern von Verdun‚ sei es durch den Besuch des französischen Staatspräsidenten Mitterand bei Ernst Jünger in Wilflingen‚ durch regelmäßige Konsultationen … eine gedeihliche Zukunft und Nachbarschaft hoffnungsvoll beschwören. Es ist nötig hier anzumerken: die Freundschaft unter den beiden Völkern ist durch die Völker selbst so gut wie nie in Frage gestellt worden; es sind noch immer die Rankünen der herrschenden Klassen gewesen…«
In Kapitel 6 wird Deutschlands Stellung in Europa verortet. Beginnend bei den Karolingern‚ Ottonen‚ Saliern und schließlich weiteren deutschen Konstellationen‚ gelangt Kalz zum Jahre 1871: »Was Deutschland zumeist verübelt wurde‚ war nicht so sehr das Faktum seiner Gründung als Nationalstaat‚ denn erst wenige Jahre zuvor hatte Italien sich vereinigt‚ und auch nach 1871 haben in Europa Staatsgründungen stattgefunden‚ und zwar mit ausdrücklicher Befürwortung durch die Gegner Deutschlands: Polen‚ die Tschechoslowakei‚ Jugoslawien; was man verübelte‚ war der durch die Einigung der deutschen Territorien entstandene Umfang des Deutschen Reiches‚ sein Menschenreichtum‚ seine Ingeniosität und seine rasant wachsende Wirtschaftskraft. Deutschland war fortan keine von außen zu bestimmende Quantité négligeable mehr‚ und es war abzusehen‚ daß inmitten rivalisierender Nationen in Europa dieser Komplex sehr bald zu einem Politikum werden würde‚ welchem man sich entweder zu fügen oder den man zu vernichten hatte.« (S.185). Dieser Gedanke ist durchaus nachvollziehbar‚ waren doch die von Napoleon angestrebten »Vereinigten Staaten von Europa« grandios gescheitert‚ was ebenso im Weltherrschaftsinteresse Großbritanniens lag. Im Blick auf die Gegenwart‚ was das Verhältnis der Bundesrepublik zu Europa anbelangt‚ schreibt Kalz: Die Bundesrepublik hat sich stets als willigste Zahlerin erwiesen‚ sie hat sich durch die Fülle ihrer humanitären und bündnispolitischen Leistungen in einen veritablen Staatsbankrott hineinfinanziert. (S. 195).
Das Kapitel 7 trägt die Überschrift »Deutschland heute«. Hier findet sich folgende Feststellung: »Der Staat Bundesrepublik befindet sich‚ als von seinen Parteien und einer denen analogen libertären Spaß- und Profitgesellschaft um seine Autorität gebracht‚ als Hüter der Nation in voller Auflösung in die Fragmente einer von heterogensten Interessen durchsetzten Gesellschaft…« (S. 207). Im Hinblick auf die Leistungen Hegels für das Allgemeinwesen vergleicht Kalz im Gegensatz die Wirkungsgeschichte von Adam Smith: »…so hat die seit Adam Smith grassierende Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche das Individuum bei strikter Wahrung seiner ureigenen Interessen ganz auf seine angebliche Selbstverwirklichung gestellt. Seitdem diese Individualreligion fundamentalistisch urbi et orbi durchgesetzt wurde‚ taumelt besagtes Individuum bindungs- und haltlos durch die Irrgärten der zerbröselnden Institution des Reststaatsgebildes‚ ist kein Mitglied der Korporation der Gemeinschaft mehr‚ sondern fungiert als das Individuum unter Individuen im Treibsand der Gesellschaft.« (S. 211). Natürlich ist folgende Logik zwingend‚ »daß weisungsbefugt doch allein derjenige ist‚ der über des Schuldners Schulden verfügt‚ und daß ein Staat – wie alle »Entwicklungsländer« es erweisen‚ in gleichem Maße an souveränem Handlungsspielraum verliert‚ wie seine Gläubiger die Staatskasse in den Händen halten.« (S. 216). Das System zermahlt sich selbst.
Das letzte Kapitel trägt die Überschrift »Epilog«. »…weder der Einzelne‚ noch die Familie‚ noch die Nation werden wohlhabend außer durch Sparen. Das ist in jeder Volkswirtschaftslehre nachzulesen. Reich wird allein der Spekulant.« (S. 224). Kalz sagt im Epilog voraus: »Man nimmt den Zustand hin bis zum Tage des Zusammenbruchs; bestenfalls wartet man des Fanals zur Revolution.« (S. 252).
In der Retroperspektive läßt sich sagen: Das Buch von Wolf Kalz ist ein wichtiger Beitrag zur Geopolitik. Man kann den Menschen nicht übel nehmen‚ wenn sie sich etwas wünschen‚ was funktioniert. Aber Europa‚ so wie es jetzt ist‚ funktioniert nicht. Sowohl der Euro erweist sich als Fehlkonstruktion‚ als auch der Vertrag von Lissabon. Man versucht den Leuten auszureden‚ was sie sehen. Und was sehen sie? Der Kaiser ist nackt. Jeder Rettungsschirm‚ oder sagen wir besser jede Luftnummer jagt die nächste. Das Buch von Kalz wird in Geschichtsdebatten an deutschen Universitäten voraussichtlich keinerlei Erwähnung finden. Für die Zeit nach dem Zusammenbruch und in der Zeit des Wiederaufbaus ist dies jedoch nicht mehr auszuschließen. In den fünfziger Jahren hieß es: »Bonn ist nicht Weimar.« Daß inzwischen aber Berlin auf dem besten Wege ist Weimar zu werden‚ läßt sich schwerlich widerlegen. Was nun das Requiem anbelangt im Hinblick auf Deutschland‚ wie auch immer‚ Totgesagte leben länger.

Kalz‚ Wolf: Ein Deutsches Requiem. Vom Aufstieg Preußens bis zum Niedergang der Republik. 2. Aufl. 2011. 258 S. ISBN 978-3-926370-46-4 Arnshaugk Kt. 18‚– €

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