Die Bilder‚ die W�rter‚ das Schiff
(Dieter Wolf)

In fünfunddreißig Briefen an Dorothea erstattet Einarr Aichlein Berichte von Träumen und Abenteuern‚ verursacht vom Tee der Engelstrompete. Einarr pflegt Austausch mit wandelnden Geistern wie der Heiligen Hedwig‚ Angelus Silesius‚ Andreas Gryphius‚ Gerhard Hauptmann‚ einer Argonauten-Gesellschaft und anderen seltsamen Personen. Zeitweise beherrscht ihn die Idee‚ Odysseus zu sein‚ wie auch B. Traven‚ ein Mönch oder ein Fisch‚ der Sepiaschleier versprüht. Er glaubt‚ Anna Seghers zu sehen und steigt mit ihr über Leitern in eine andere Welt. Zeichen auf seinem Weg in die vermeintliche Freiheit sind ihm Gespräche mit Toten auf einem Friedhof‚ die zum Leben erwacht sind. Stets hält er Ausschau nach einem versunkenen Land‚ welches hin und wieder aufblitzt als eine Gemarkung in Schlesien‚ Ithaka oder als fremder‚ seltsam erscheinender Ort‚ bis ein phantastisches Schiff ihn in den schillernden Trichter einer Trompete lenkt. Abgesehen von der Adressatin‚ an wen sind die Briefe möglicherweise noch gerichtet‚ wem gereichte die Lektüre zur Freude und Erbauung? »Jenem Teil der Öffentlichkeit‚ auf dessen Bereitschaft ich hoffe‚ solchen Fragen zu folgen‚ die das Unbehagen erregt‚ weil die führenden Köpfe am Fundamentalen vorbeidefilieren?« [S. 10].
Der erste Brief beginnt mit den Worten: »Ich träumte den seltsamsten Traum einer Fahrt über sprudelnden Schaum […].« Es heißt: »Träume sind hermetische Boten. […]. Doch gibt es nicht zweierlei Arten Gelehrte? Jene‚ die Wissen besetzen gleich einer Burg mit Grenzwall für Leben und Denken‚ und solche‚ die den Geist hervortreten lassen‚ im gemeinsamen Dienst mit der Kunst.« [S. 7 u. 8]. Träume erweisen sich mitunter als eine bizarre‚ halluzinatorische mentale Aktivität‚ man muß nicht unbedingt ein Oneirologe sein‚ ein Traumdeuter‚ um sie zu verstehen‚ die eigene Erfahrungswelt kann zu Diensten sein. Über Träume kann man gewiß geteilter Meinung sein‚ doch aus ihnen stammen auch manch kreative Anstöße in der Musik‚ der Poesie‚ der Malerei und selbst in den Naturwissenschaften. August von Kekulé soll von einer Schlange geträumt haben‚ die sich in den eigenen Schwanz beißt‚ hierdurch fand er die Lösung für den ringförmigen Benzolaufbau; und selbst Dmitri Mendelejew‚ der das Periodensystem der Elemente schuf‚ fand die Lösung nach eigenen Angaben im Traum. Ein Wahrtraum‚ ein Klartraum‚ ein Albtraum‚ ein Tagtraum kann Wichtiges offenbaren. Von einem Flashback spricht man‚ wenn die Erinnerung unwillkürlich auftaucht oder wenn sie so stark ist‚ daß die jeweilige Person die Erfahrung wieder durchlebt‚ mitunter unfähig‚ sie völlig als Erinnerung zu erkennen. Es handelt sich um eine Form besonders intensiver Erinnerung.
Gehrisch schreibt: »Ich habe Lwowek erwählt‚ um grübeln zu können‚ die unergründlich liebreiche Stadt mit gleichsam verkokelten Türmen‚ die sich über Tore und Dächer erheben […] in der Wojciech‚ der Dichter‚ über wandelnde Nachtgeister wacht. Eine Tür führt hinaus zum Balkon seiner Inspirationen‚ dem Wehrgang‚ einhundert Schritte‚ so lang – nach Wojciechs Beschreibung – wie Heinz Czechowskis wehender Schal.« [S. 10]. Es geht um ein Wandeln in der Unwirklichkeit‚ die sich als Wirklichkeit auftut. Gehrisch benennt sein Selbstverständnis wie folgt: »Ich glaube‚ es ist an der Zeit‚ eine Lanze für das Irrationale zu brechen. Ein Seelengehöft wie der Traum und die Trauer‚ es dient der Korrespondenz mit der gewaltigen Fremdheit‚ in die wir hineingestellt sind.« [S. 81]. Der Fremdheit steht allenthalben die Heimat gegenüber‚ das Vertraute‚ aber ebenfalls oft Rätselhafte. In der Heimat gelangt man zur Sprache. Gehrisch bezieht sich auf Humboldt: Die vaterländische Sprache besitzt eine größere Stärke und Innigkeit als alle anderen Sprachen. Das Unerklärlichste und Individuellste ist der Laut. Und uns sei es‚ als wenn wir mit dem heimischen– einen Teil unseres Selbst vernähmen. Solche Worte strafen die Auffassung Lüge‚ Heimat sei nur ein sentimentaler Begriff. [S. 92].
Im achtzehnten Brief heißt es: »Sie fragen mich‚ wie ich den Umschwung empfand‚ das andere Land‚ die neuen Verläufe? Als ich bestellt zum deutsch-deutschen Mahl‚ Berlins geborstene Mauer beäugte‚ fiel mir zunächst ein Heine-Vers ein. Ich vermute‚ Sie werden ihn kennen?
            Ihr heimischen Stockfische‚ seid mir gegrüßt!
            Wie schwimmt ihr so klug in der Butter!
Begreifen Sie mich? Der Freiheitswind erregte Schwindelgefühle in mir. Was erwartete einen wie mich?« [S. 96]. Er resümiert: »Ich suchte nach einem Austausch über die Vorderseite des Daseins hinaus.« [S. 98]. Insofern ist der Besuch einer Totenstadt dennoch eine Überraschung: »Und siehe! Eine Totenstadt öffnet das Tor. Plötzlich: mein Fuß stößt auf eine der prachtvollen Truhen‚ in welchen die Toten das Ohr an die Ewigkeit legen. Das Relief auf dem Deckel‚ von Glühlicht flirrend umsponnen‚ Episoden vom Thronsitz der Obersten Ordnung.« [S. 105]. Aichlein geht es nicht gut‚ er leidet an der Welt und ihren schwer erträglichen Surrogaten: »Wie geht’s dem Bank- und Wuchergeschäft? Die Aktien‚ sie steigen‚ die Gosse stinkt‚ der Geist sinkt. Ah‚ und da ist ja der Cherub des großen Tut-Rohrs. Wie‚ bitte‚ verdummt man das Volk? Und wie heißt die neueste Posse? Regiere! Vergiß nicht: Zeitvertreib und Retuschen für das Dienstpersonal! Nur keine Klarheit! Klarheit ist Leiden. Und auch der Pauker ist da‚ der Sprücheklopfer! Freiheit und Würde des Menschen – unfaßbar! – Man soll den Tag nicht vor dem Schlachtmesser loben. – Wer alle Tage Gutes will‚ dem schenkt der Tod ein Bremsventil.« [S. 110].
Das Buch bietet nebenbei auch einen unterhaltsamen Streifzug durch die schlesische Literatur und Landschaft. Hier sei nur Cyprian Norwid genannt [S. 138]:
            Gerichtet werden Autoren von ihren Werken
            Nicht – Autoren von Autoren! –
Aichlein begegnet dem König der Tinte‚ den Dompteuren des Volkes‚ er klagt: »Jetzt halten mich auch noch gezeichnete Linien umzingelt!« [S. 156].
Aichlein wandelt in den aufgewickelten und abgewickelten Dimensionen der Poesie. Er begibt sich in einen Dialog mit der Lichtlosigkeit. Kein Wunder sind daher schnell anschwellendes Wasser und Wellen so hoch wie die Knickpyramide des Snofru. Und Aichlein bekennt: »Auf einem Streichholz‚ so bin ich über das Meer.« [S. 167].
Was ist uns hier begegnet in den Tiefen und Höhen der schlesischen Landschaft? Eine Mischung aus James Joyce und Arno Schmidt? Wie auch immer‚ mit großer Voraussicht aber gewiß ein Buch‚ das bleibt.

Gehrisch‚ Peter: Die Bilder‚ die Wörter‚ das Schiff. Roman. 186 S. 385g. 2012. 186 S. ISBN 978-3-86660-152-9 Leipziger Literaturverlag Gb. 24‚95 €

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