Die Ideologie des deutschen Sonderweges
(Helmut Roewer)

Jeder Krieg endet einmal irgendwie. Oft gibt es einen Sieger. Der Sieger nimmt sich vom Besiegten‚ was er brauchen kann‚ seine Vorräte‚ sein Vieh und seine Weiber. So war es durch Jahrtausende der Brauch. Mit der Neuzeit kamen nur scheinbar neue Methoden auf. Sie betreffen das Geistige. Der Sieger verlangt nicht nur das Brauchbare‚ sondern auch die Unterwerfung unter sein Recht‚ seine Anschauungen und die Übernahme seiner Geschichtsmythen. Wir können‚ was dies anlangt‚ nur Vermutungen anstellen‚ ob das nicht schon immer so war‚ doch es spricht manches dafür‚ da wir aus früheren Zeiten nur die Geschichtsschreibung der Sieger kennen. Man nehme nur die Schlacht vom Teuteburger Wald. Es war ein Raid des römischen Feldherrn Varus ins angeblich finstere Germanien. Mag sein‚ daß den Mann die Blondinen reizten. Wir wissen es nicht. Die Sache gedieh bekanntlich zum Desaster. Doch wo fand die entscheidende Schlacht eigentlich statt? Wir wissen auch das nicht zu sagen‚ denn den römischen Historikern war die exakte Aufzeichnung darüber nichts wert. Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts versprechen ein ähnliches Ergebnis. Es gilt die Geschichte der Sieger. Jetzt sind wir mitten in dem besprochenen Buch.
Um es vorweg zu sagen: Das Buch ist ein Solitär. Es enthält eine beißende‚ kenntnisreiche Kritik der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. Zeitgeschichte ist nicht vom Himmel gefallen‚ sondern eine Selbstbenennung aus der Zunft der Historiker‚ die sich mit der Geschichte des Dritten Reichs befassen. So jedenfalls begann es‚ schnell wurden zeitliche Erweiterungen nach vorne und nach hinten üblich. Die eine der beiden Richtungen ist leicht zu erklären‚ denn bei der Fragestellung: Wie konnte es eigentlich dazu kommen‚ muß man notwendiger Weise etwas weiter zurück‚ jedenfalls wenn man Historiker ist und kein Heilsgläubiger. Der nach vorne gerichtete Blick wundert da schon eher‚ denn für einen abgeschlossenen Vorgang benötigt man das Hier und Jetzt als Historiker nicht‚ es sei denn‚ man will Geschichtspädagogik mit erhobenen Zeigefinger betreiben (»der Schoß ist fruchtbar noch«).
Genau hier setzt die Kritik von Kalz an. Er postuliert: Die Aufgabe des Historikers sei zu erzählen‚ was gewesen. Und das sei genau das‚ was die Zeitgeschichtsschreibung seit Jahrzehnten verweigere. Sie verschließe sich der lawinenartig zunehmenden Zahl der Quellen und verharre beflissen in einer Wagenburg‚ befestigt mit den Zutaten einer hanebüchenen Quellenklitterung‚ wie sie von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs zur deutschen Erziehung installiert worden sei. Als Hauptquellenbestand nennt Kalz das Monstrum der sogenannten Dokumentensammlung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.
Hier wird sicher der eine oder andere abwinken und sagen‚ daß es doch heute möglich und üblich sei‚ sich vieler anderer Quellen zu bedienen‚ um nicht auf diesen mutwillig zusammengefälschten Schrott angewiesen zu sein. Wohl wahr‚ sagt Kalz‚ und: wie schön‚ wenn man’s denn täte‚ und dann weist er anhand heutiger Standardwerke nach‚ daß dies eben nicht geschehe‚ sondern nach wie vor offensichtlich Gefälschtes wie die Hoßbachprotokolle (in welcher der Varianten auch immer) zu vollmundigen Beweisen herangezogen werde. Anhand der selben Standardwerke führt Kalz aber auch den Nachweis‚ daß alles das‚ was eigentlich zur Geschichte des Dritten Reiches und seiner Vorgeschichte‚ auch speziell der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs dazugehöre‚ bewußt weggelassen werde.
Dabei ist dieses Weglassen durchaus konsequent und‚ wenn man so will‚ folgerichtig‚ denn die Zeitgeschichtsschreibung will nicht erzählen‚ was gewesen ist‚ sondern sie will urteilen‚ einteilen in Gut und Böse‚ in Täter und Opfer und so weiter‚ und sie will nicht nur die Nachgeborenen belehren‚ sondern auch die Vorfahren als die handelnden Personen. Geschildert wird‚ wie sie sich richtiger Weise hätten verhalten müssen. Es bedarf keines Palavers‚ daß es für dieses »richtig« und »falsch« jeden wissenschaftlich vertretbaren Ansatzes ermangelt. Die insofern von Kalz zitierten wohlbekannten Gegenstimmen der »Zunft« werden getreulich aufgeführt und zitiert. Es ist ein zweifelhafter Genuß derlei zu lesen. Dieses verquaste Fremdwörtergestelze mit seinen »Vermessungen« und »Verortungen«. Der so entstehende Wortbrei tut dann nur eines: Er verströmt tödliche Langeweile und artet in ein Spiel aus‚ in dem sich die amtlich bestallten Geschichtsverwalter gegenseitig an ihren Fußnoten berauschen.
Man fragt sich allerdings auch: in welcher geistesgeschichtlichen Epoche befinden wir uns eigentlich‚ wo die Vertreter von Geschichte als Wissenschaft die Begriffe der Objektivität und der Wahrheit aus prinzipiellen Gründen in Frage stellen‚ sich selbst von ihnen freizeichnen und dementsprechend handeln. Aber man sollte sich nicht vertun: die Auflösung dieser Begriffe ist die pure Notwendigkeit‚ denn wenn schwarz nicht mehr schwarz und weiß nicht mehr weiß ist‚ dann ist der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Gelaber wird zum Beweis. Jeder darf eine Meinung haben‚ und (das wird ausdrücklich so postuliert!) vertreten wird nur das‚ was mehrheitsfähig ist. Was die angebliche Mehrheit nicht hören will‚ war also nicht.
Hier tut sich dann ein merkwürdiger Widerspruch auf. Der selbsternannte Pädagoge‚ der nichts zu erzählen weiß‚ vermag auch nichts zu bewirken. So sollte man jedenfalls denken. Doch der eigentliche Clou ist‚ daß für diesen Zweck Ersatz geschaffen wurde. Es ist dies die Geschichte der deutschen Schuld. Im Prinzip ein absurdes Unterfangen‚ das zu den sonst üblichen Anschauungen unseres Staats-‚ Rechts- und Gesellschaftssystems im krassen Widerspruch steht. Dort wird der Primat des Individuums postuliert‚ das gilt auch für die Schuld‚ sie ist stets individuell nachzuweisen. Der Ansatz von der ererbten Schuld hat etwas Alttestamentarisches‚ und die Floskel vom Hitler in uns‚ einschließlich seiner Entstehung vor gut 200 Jahren ausgerechnet in Preußen verdient nur ein Verdikt: verrückt und völlig übergeschnappt.
Vieles andere wäre noch zum Buch von Kalz hinzuzufügen‚ so seine Fallstudien zu Versailles als dem Auslöser des dann folgenden für die Deutschen so katastrophalen Ungemachs‚ seine Einordnung dieser Dinge in die Vorgeschichte nicht nur des Dritten Reiches‚ sondern auch des Zweiten Weltkriegs‚ seine spezielle Beurteilung des US-Präsidenten Roosevelt und dessen gezielte Konfliktsuche in Asien und Europa zur Bewältigung der massiven Wirtschaftsschwierigkeiten im eigenen Land. Ist das nun der vielgeschmähte Revisionismus? Das ist eine Standortfrage. Wer ernsthaft glaubt‚ man könne wissenschaftliche Fragestellungen durch Verbote regulieren‚ mache einmal einen Ausflug in die Geschichte der katholischen Kirche und deren Verfall. Zeitgeschichte als Kirchenersatz? Vielleicht kommt das der sogenannten Krise der deutschen Geschichtswissenschaft am nächsten. Geschichtswissenschaft ist dann zur Geschichtstheologie verkommen.
Was ist nun mit dem Buch? Man muß es lesen‚ um mit ihm zu kämpfen. Es lohnt sich.

Kalz‚ Wolf: Die Ideologie des deutschen Sonderwegs. Exkurse zur Zeithistorie. 2. Aufl. 2013. 321 S. ISBN 978-3-944064-06-2 Arnshaugk Kt. 19‚80 €

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