Wird Israel �berleben?
(Hilke Gerdes)

Israels Lage im Nahen Osten war schon immer schwierig‚ und seine langfristigen Aussichten versprechen kaum Besserung. Kein Wunder also‚ daß schon in englischer (Mitchell G. Gard: Will Israel survive? Palgrave 2008) und in französischer Sprache (Michel Gurfinkel: Israel peut-il survivre? Paris 2011) je ein Buch mit dem Titel »Wird Israel überleben?« erschienen ist. Volkmar Weiss setzt jedoch andere Akzente als tagespolitische. Denn wie mit einem Brennglas ist die Geschichte der Industriegesellschaft in der Geschichte des Judentums fokussiert.
Ein beträchtlicher Teil des hochinteressanten Buches befaßt sich mit dem wirtschaftlichen und zahlenmäßigen Wachsen des jüdischen Volkes‚ der Ashkenasim‚ in den Grenzen des polnischen Staates‚ seit Beginn der Neuzeit bis ins Rußland des Zaren. Der Verfasser sucht nach den Wurzeln des Antisemitismus und zitiert dafür in zusammenfassender Weise den Historiker Hans Rosenberg (1967): »Der moderne Antisemitismus Mitteleuropas ist aus spezifischen historischen Umständen erwachsen‚ die zu den Nebenprodukten oder Begleiterscheinungen der Industriellen Revolution gehören. Seinem Ursprung nach war er eine relativ spät einsetzende‚ heterogene Widerstandsbewegung‚ die sich gegen die einflußreiche‚ als übermächtig‚ oft als Fremdherrschaft empfundene wirtschaftliche‚ gesellschaftliche und politische Stellung richtete‚ welche sich ein sehr erheblicher Teil der jüdischen Minoriätengruppe ... seit der gesetzlichen Sanktionierung der formalen Gleichberechtigung ... hatte erringen können.«
Am 25. August 1933 schlossen die Jewish Agency und das deutsche Reichsministerium für Wirtschaft das Haavara-Abkommen‚ das Juden die legale Ausreise nach Palästina und die Tranferierung eines Teils ihrer Vermögen ermöglichte. In den Akten des Auswärtigen Amtes sind aus den Jahren 1937 und 1938 mehrere Schrifstücke enthalten‚ in denen Adolf Hitler zu diesem Abkommen Stellung nahm und »entschieden hat‚ daß die Judenauswanderung aus Deutschland mit allen Mitteln gefördert werden soll‚ wobei sich diese in erster Linie nach Palästina zu richten habe.« Unter den von der Mandatsregierung Palästinas vorgesehenen Einwanderergruppen war nur die als Kategorie A1 bezeichnete Kapitalisteneinwanderung zahlenmäßig unbeschränkt und ausschließlich an den Nachweis eines Eigenkapitals gebunden. Die jüdische Einwanderungswelle ab 1933 brachte im Verlauf von neun Jahren 44 000 Einwanderer der Kategorie A1 nach Palästina. Diese Einwanderergruppe hat die wirtschaftliche Struktur und das gesellschaftliche Gepräge der Juden in Palästina tiefgreifend verändert. Unter ihrer Beteiligung und Einwirkung hatte sich die industrielle Produktion verdoppelt‚ die Technik modernisiert und die erzeugten Waren kamen allmählich in Auswahl und Qualität auf ein europäisches Niveau. Die jüdische Gemeinschaft in Palästina erhielt in einer entscheidenden Entwicklungsphase ein Reservoir an wissenschaftlich und praktisch hochqualifizierten Kräften: Forscher und Lehrer‚ Ärzte und Ingenieure‚ geschulte Beamte und erfahrene Fachleute der Wirtschaft und Technik.
Als 1948 der Staat Israel gegründet worden war‚ hatten die Ashkenasim die Kontrolle in allen Schlüsselpositionen. Sie stellten die politische und kulturelle Elite des Landes‚ ihr mittlerer IQ lag bei etwa 115. Als 2002 das Buch von Lynn und Vanhanen »IQ and the Wealth of Nations« erschien und darin für Israel ein mittlerer IQ von 94 stand‚ schien das ein grober Fehler der Verfasser zu sein. Israel beteiligt sich jedoch auch an den PISA-Studien. Die Umrechnung der PISA-Werte in IQ-Werte ergibt für Israel sogar noch einen niedrigeren Mittelwert‚ nämlich einen IQ 88 für die Geburtsjahrgänge nach 1984. Volkmar Weiss stellt die spannende Frage: Gibt es dafür eine Erklärung?
Heue sind nur 22% der Einwohner Israels Juden europäischer Herkunft; rund 50% Mizrachim; das sind Juden und ihre Nachkommen‚ die aus arabischen und muslimischen Ländern nach Israel ausgewandert oder geflüchtet sind. Der überdurchschnittliche mittlere IQ wurde nur bei Ashkenasim gefunden. Die Juden aus arabischen Ländern‚ die Mizrachim‚ haben einen mittleren IQ wie die Araber dieser Länder auch. Damit wäre eigentlich schon der mittlere IQ Israels erklärt. Die Bevölkerungsanteile nach Herkunft entsprechen aber nicht den Anteilen der Schüler‚ die in Israel bei PISA getestet werden. Etwa 10% der Juden in Israel bekennen sich zu den Haredim‚ den Gottesfürchtigen. Die ultraorthodoxen Juden in Israel sind dafür bekannt‚ früh zu heiraten und viele Kinder zu bekommen‚ wobei die Männer einen Großteil oder ihr gesamtes Erwachsenenleben mit dem Studium des Talmuds verbringen statt zu arbeiten.
1953‚ als die Knesset beschloß‚ ein nationales Erziehungssystem zu schaffen‚ half der Staat bei der Finanzierung von ultraorthoxen Schulen‚ doch die höheren Lehranstalten für haredische Jungen sind Talmudschulen‚ die gänzlich der religiösen Unterweisung gewidmet sind. Die Wertvorstellungen wandelten sich. Fortan sollten haredische Männer und Frauen jung heiraten‚ die Männer auch nach der Heirat weiter in Talmudschulen die Tora studieren‚ unterstützt von ihren in Grundschulen unterrichtenden Frauen. Obwohl ultraorthodoxe Männer viele Jahre studierten‚ waren sie durch ihre Schulbildung in keiner Weise auf Jobs in einer modernen Wirtschaft vorbereitet. Seit ihren jungen Jahren hatten weder Mathematik‚ Naturwissenschaften. Fremdsprachen noch andere allgemeine Studien auf ihrem Lehrplan gestanden. Zwischen 1952 und 1981 fiel das Heiratsalter ultraorthodoxer Männer von 27‚5 auf 21‚5 Jahre. Unter haredischen Frauen wurde die Heirat vor dem 20. Lebensjahr üblich. 1996/97 hatten die ultraorthodoxen Frauen je 7‚5 Kinder‚ die anderen jüdischen Frauen 2‚2; 2006/07 – nach einer Kürzung der Kindergelder – 6‚74 zu 2‚20. Um 2003 lebten in Israel nach einer Zählung 470 000 ultraorthodoxe Juden‚ nach anderen Quellen 550 000. Da ihre Fruchtbarkeit aber dreimal höher ist als unter den übrigen Juden Israels und ihr Heiratsalter niedriger‚ wächst ihr Bevölkerungsanteil rasch. Viele weitere Kinder wachsen in die Reihen der Erwerbsuntüchtigen hinein. Der mittlere IQ des Landes sinkt. Über ein Fünftel der israelischen Haredim ist vier Jahre oder jünger. Ein Viertel aller Kinder in Israel besuchte 2009 ultraorthodoxe Kindergärten und Vorschulen. Falls diese Kinder keine andere Erziehung erhaltenm werden auch sie lebenslang abhängig bleiben von der schrumpfenden Zahl israelischer Erwerbstätiger. Dieses System wird Israel in den Bankrott treiben‚ fürchten israelische Sozialwissenschaftler.
Angesichts des prozentualen Anwachsens der ultraorthodoxen religiösen Juden‚ die in Israel zum Teil die aktive Wehrpflicht verweigern‚ und der anderen inneren Verschiebungen der Bevölkerungsanteile‚ steht dem Staat Israel die eigentliche Bewährungsprobe vor der Geschichte erst noch bevor. Der Historiker Avraham Barkai (geboren 1921)‚ der seit 1938 in einem Kibbuz lebt‚ stellte 2011 im Rückblick auf die Gesamtentwicklung ernüchtert »eine Senkung des Lebensstandards auf allen Gebieten« fest sowie »daß das Niveau des Erziehungswesens‚ vom Kindergarten bis zu den Universitäten‚ von Jahr zu Jahr sinkt«.
Alle hier auszugsweise zitierten Tatsachen und Schlußfolgerungen sind in einem streng wissenschaftlichen Schreibstil mit Statistiken und Zitaten belegt‚ und auch für Spezialisten dürften die Quellenangaben des kleinen Buches eine echte Fundgrube darstellen.

Weiss‚ Volkmar: Wird Israel überleben? Die Juden und ihr Staat. Mit einem Nachwort von Dieter Wolf. 2013. 102 S. ISBN 3-944064-08-9 Arnshaugk Kt. 8‚50 €

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