Lavapolis
(Martin Beutler)

Die Utopie ist so alt wie die Welt. Immer träumten Menschen von einer besseren Welt als jene‚ in der sie sich zu leben genötigt sahen. Es gab aber auch immer Menschen‚ die das utopische Denken ablehnten. Goethe:
Was machst du an der Welt? Sie ist schon gemacht;
Der Herr der Schöpfung hat alles bedacht.
Dein Los ist gefallen; verfolge die Weise!
Der Weg ist begonnen‚ vollende die Reise!
Denn Sorgen und Kummer verändern es nicht;
Sie schleudern dich ewig aus gleichem Gewicht.
Für den umfangreichen Artikel der wikipedia ist die lange Tradition utopischen Denkens mit dem Jahr 1990 an einen Endpunkt gelangt. Es ist auch richtig‚ daß sich seither eher Dystopien auf dem Buchmarkt tummeln. Die Motivation dazu dürfte sich aber ähneln‚ und so ist es gewiß nicht übertrieben‚ gerade unserer Zeit ein besonderes Bedürfnis nach Utopien zu attestieren.
Michael Schindhelm nennt sein Buch ein »Heterotopie« und erreicht es so‚ dem Bedürfnis nach Utopie zu genügen und gleichzeitig die Einreden aus düsterer Erfahrung zu beschwichtigen. Es ist eben keine Utopie‚ sondern eine Heterotpie. Was ist das? Der Begriff wird von Foucault kurzfristig im Frühwerk verwandt. Wie bei der Insel Utopia handelt sich um Orte. Allerdings um Orte außerhalb aller Orte‚ die gleichwohl wirklich und wirksam sind‚ in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert‚ bestritten und gewendet sind. Weiteres Merkmal der Heterotopien ist die Dynamik in ihrem Fortbestehen‚ sie lassen sich nur vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandel begreifen.
Es klingt zunächst einmal nicht unvernünftig‚ wenn die Utopie keine unendliche wagnerische Melodie und kein Schlaraffenland tödlicher Langeweile ist. Allerdings hat ein Wandel‚ der sich nur aus dem Wandel begreifen läßt‚ auch einen Ruch von Revolution in Permanenz.
Ich will noch kurz auf den Aspekt des Ortes eingehen. Nicht unzutreffend hat man die Moderne als Entortungsbewegung beschrieben‚ als Angriff auf Faktizität des ererbten Schicksals‚ was auch mit dem Wort »Entwurzelung« beschrieben wird. Die Heterotopie weist nun zwar dem entwurzelten Menschen einen neuen Ort seiner Sehnsucht‚ aber es ist‚ wie die Definition klarstellt‚ ein virtueller Ort‚ wikipedia spricht gar vom »Illusions- und Kompensationsraum«. Zu beachten ist auch‚ daß die Dynamik des Ortes keine eigengesetzliche ist‚ sondern‚ weil nur vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels zu begreifen‚ eine Dymamik‚ die von gerade dem Wandel ausgeht‚ dem der Entwurzelte zu entfliehen trachtet. Also ein Taschenspielertrick. Ein Münchhausen‚ der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht. Nun‚ das soll ja zuzeiten gelingen. Schauen wir uns an‚ was uns Michael Schindhelm mit »Lavapolis« bietet.
An das traditionelle Genre anknüpfend‚ ist Lavapolis eine Insel‚ sie liegt im Mittelmeer‚ war bis in jüngste Vergangheit vulkanisch aktiv und ist erst seit Jahrzehnten bewohnbar‚ also ohne menschliche Geschichte. Aha! Hier trifft sich die multikulturelle Gesellschaft‚ die aber in der Darstellung Michael Schindhelms vor allem aus Spinnern‚ Kulturleuten und sozial Engagierten besteht. Zwölf Personen berichten von ihrem Leben. Jeder für sich und ohne Bezug zum anderen‚ einzig durch diesen Ort‚ der keiner ist‚ verbunden. Das Stilprinzip gibt es ja häufiger‚ mich persönlich erinnert das immer an Maxie Wander‚ weil dies in der DDR das erste Buch dieser Art war‚ das uns zugemutet wurde.
Die Lebensgeschichten sind von einer kaum zu übertreffenden Langeweile. Die Protagonististen kommen durch die ganze Welt‚ verzugsweise durch die Brennpunkte dessen‚ was man heute Kultur zu nennen pflegt‚ und sammeln die üblichen klischeehaften Erfahrungen. Bemerkenswert das Mißverhältnis von unglaublichen Glücksfällen‚ etwa‚ wenn man so mir nicht dir nichts einen gutdotierten Posten für eine Orchideenaufgabe angeboten bekommt und den natürlich annimmt‚ und daraus nichts folgt‚ als ein fortgesetztes Durchs-Leben-Trotten‚ illustriert mit einer Fülle von Gemeinplätzen‚ wie wir sie aus der sogenannten Qualitätspresse kennen. Dazwischen jede Menge Schein-Tiefsinn‚ wie etwa eine Einlassung zum Beschleunigungswahn der modernen Technik‚ die so lange vernünftig klingt‚ bis sie ausrechnet mit Einstein begründet wird. Der Autor hat vom Internet gelernt‚ und so ist der Text auch laufend mit Verweisen zu einer Art von politischem Wörterbuch am Ende des Buches gespickt. Spätestens beim dritten dieser Anker entflieht man der Tristesse und liest nun im Klartext‚ wie es im Staate Lavapolis politisch und verfassungsmäßig so ausschaut.
Da erfahren wir dann z.B.‚ daß der heterotopische Staat dem allgemeinen Parteienverdruß Rechnung trägt. Es werden alle aufgelöst. Das klingt erst einmal sehr erfreulich. Aber der Parlamentarismus soll fortbestehen‚ nach einer leider etwas schmierigen Aristokratie von Amerikas Gnaden wächst die Macht des Parlaments stetig. Wie wird gewählt? Natürlich von allen und geheim. Wer alle ist‚ bleibt bei dem schwammigen Staatsbürgerschaftsbegriff etwas unscharf‚ aber verspielen wir uns nicht an Nebenschauplätzen. Kandidaten können sich mit politischen Einzelprogrammen zur Wahl stellen. Das werden also Dinge sein‚ bei denen man auf großen Zustimmung hoffen darf. Freibier für alle oder Rente ab dreißig! Die elf Kandidaten mit den meisten Stimmen bilden dann das Kabinett. Ob das alles Fußballer‚ Schlagersänger und andere Pop-Stars sind? Wie dem auch sei‚ ob die zu verteilenden Ressorts dann auch zu den Kandidaten passen‚ scheint mehr als fraglich. Aber keine Sorge! Nirgends die Rede davon‚ daß irgendjemand für die Folgen seine Tuns hafte. Das paßt hervorragend zum ganzen Staat. Gegründet als großes Spielcasino und bekannt für seinen High-End-Tourismus und für den Verkauf von Staatsbürgerschaften.
Ohne Zweifel‚ alle Perversionen der global-trunkenen Welt werden uns hier als Heterotopie verkauft. Habe ich als tumber Deutscher das Buch vielleicht nicht verstanden? Übersah ich die köstliche Ironie‚ die den Schrecken der Gegenwart in dystopisches Gewand kleidet? Ich wünschte‚ ich wachte aus einem Alptraum auf. Leider sind die Intentionen des Autors unmißverständlich.
»Lavapolis« ist nämlich nicht nur ein Buch‚ das zeitgleich auf Englisch erschien‚ die transmediale Fiktion über eine Parallel-Gesellschaft entfaltet die sich auch auf einer gleichnamigen Internetseite und in Auftritten auf der Biennale von Venedig 2014. Es steckt also das Großkapital hinter der Sache. Auf der Netzpräsenz geht man einen Schritt über die Heterotopie hinaus. Es heißt‚ dies sei eine Insel‚ die (noch) nicht existiere‚ das »noch« in Klammern gesetzt. Nehmen wir die Klammer weg‚ haben wir einen Zukunftsplan vor uns.
Die Geschichte mit dem Schauspieler-Parlament ist nicht wirklich witzig. Vor der Einführung des Privatfernsehens hielt man die Prognosen auch für übertriebene Panikmache. Die Verblödung fast aller wird noch ganz andere Triumphe feiern. Ich erlaube mir noch ein krasses Bespiel aus dem reichen Fundus von »Lavapolis«. Da wird beschrieben‚ daß die nach Ansicht des Autors auch im Alltag unverzichbaren Kommunikationstechniken vor immer jüngeren Kindern entwickelt und geprägt werden. Das hätte notwenig einen Verfall der elterlichen Autorität zur Folge und die Politik müsse dem Rechnung tragen. Na dann gute Nacht!
Warum wird ein so offensichtlich absurdes Buch hier besprochen? Weil diese Dinge zwar absurd sind‚ aber von mächtigen Leuten tatsächlich gewollt und durchgesetzt werden. Der Autor ist ein williger Helfer. Davor muß gewarnt werden.

Schindhelm‚ Michael: Lavapolis. 2014. 237 S. Matthes & Seitz. ISBN 978-3-95757-004-8 Gb. 19‚90 €

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