Musend�mmerung
(Roberto Linnarz)

Ein Band mit Theaterstücken‚ die ihre Realisation auf der Bühne bisher noch nicht erfahren haben und so auf schmerzhafte Weise deutlich machen‚ wie sehr das Gegenwartstheater von großen formalen wie sprachlichen Traditionen sich entfernen zu müssen glaubt.
Unter dem Titel des letzten Textes im Band sind vier Tragödien – »Punisches Lied«‚ »Medea«‚ »Orpheus« und eben »Musendämmerung« – und der als »Schäferspiel« bezeichnete Text »Polyphem« samt dem Dialog »Nausikaa« zusammengefaßt.
Eines ist den Texten gemein und hoch zu würdigen: die so wunderbar zeitgeistfernen Sätze zum Beispiel über die Königswürde als entpersonalisierten Topos höchster Moralität und über die Aleatorik der Volksgunst (alias: der demokratischen Entscheide)‚ deren niederschmetternde Irrationalität sich im abstrusen »Pressehype« fortsetzt. Solche Besonnenheiten sind nicht gerade in Mode‚ und Mut ist hier zu bewundern.
Daneben aber muß noch Verblüffenderes gleich vornweg gelobt werden: ein immer wieder aufbitzender Humor‚ mit dem herzhaft und hochintelligent in den so überaus flüssigen Versen zu unserer Gegenwart Stellung genommen wird‚ höchst vergnüglich und doch quasi in wehendem antiken Gewand. »Der Mensch hat sich dem Wandelsinn verschworen‚/ er rast wie durch das Unterholz der Eber./ Es werden immer mehr davon geboren‚/ auch wenns Prometheus büßt mit seiner Leber…«
Das als Tragödie bezeichnete Schauspiel »Punisches Lied« über die Gründung Karthagos sei hier beispielhaft für den pointierten Humor und die gehörige Portion Eros ausgewählt‚ eine weiter gespannte Betrachtung müßte wegen Vielfalt und Gewicht der Stücke in diesem Rahmen oberflächlich sein.
Schon der Prolog bekennt: »Wir wollen keine Langweil hier im Saale‚ sonst heißts‚ die Bühne wäre zuzumachen‚ weil keiner sie besucht zum zweiten Male.« – Das ist keck‚ und tatsächlich wird es durchweg eingelöst.
»Eins zu eins« das Stück beim Wort zu nehmen‚ ist nicht einfach‚ denn schon ein Opferfeuer an Bord eines antiken Schiffes in Bühnenrealismus zu bringen‚ ist kompliziert‚ – nicht technisch‚ aber wegen solchem Realismus zuwiderlaufenden Sehgewohnheiten im heutigen Theater. Freilich könnte darin auch etwas Revolutionäres liegen‚ eine Herausforderung‚ die sich lohnen könnte.
Nicht anders verhält es sich mit dem Auftritt der Göttin‚ aber nähere Begegnung mit dem Stück läßt unerwartet Spannendes‚ ja höchst Erotisch-Sinnliches aufscheinen. Und so wird in Traum und Delirium das Erscheinen der Göttin plausibel‚ exotisch‚ surrealistisch und spannend.
Jedes vorschnelle Urteil‚ welches bequem aus dem Empörungspotential schöpft‚ das die Gegenwart in so reichem Maße zu jedermanns Intellektualitätsimitation bereithält‚ kann dem Stück nicht gerecht werden‚ es verlangt differenzierte Rezeption. So ist die Schilderung der Eingeborenen auf den ersten Blick frappierend politisch unkorrekt‚ später gerät die Tumbheit des Stammeschefs neben der brillanten Gewitztheit seines Dolmetsches zur Clownerie.
Freilich geschieht keine Greueltat‚ und der launig-listige Beschiß in Form der kilometerlang aufgezwirbelten Rinderhaut zur Landgewinnung wird schließlich auch von den Überlisteten als Profit für sie selbst gewertet. Eine schöne Utopie des kolonialen Gedankens‚ vielleicht eine schwerwiegend traurige Benennung einer in der realen Welt verpaßten Gelegenheit. »Ein Schönheitsfehler liegt im Gründerwerke‚ doch anders ward nie eine Welt zu bauen.«
Geradezu in kecker Operettenlustigkeit mag die Szene der ersten Verhandlung zwischen den Kulturen zu verstehen sein‚ wobei sich die beträchtliche Gewitztheit der Frauen im Stück als »gendergerechter« Gewinn auf wahrlich lessingscher Höhe bewegt.
Während nun ein großer Teil des besonders ästimierten Gegenwartsheaters vor dem frechen Spiel mit Banalisierungen und Geschmacklosigkeiten nicht zurückschreckt‚ bedient sich Lammla immer wieder probater klassischer Volten‚ so in der durchaus shakespeareianischen Schlafankündigung‚ die dann auch prompt einen effektvollen »Sommernachtstraum« samt Göttinnenerscheinung einläutet.
Gleich zwei Göttinnen spielen wichtige‚ obendrein konkurrierende Rollen: Juno – sozusagen die Schutzheilige der braven Dido – und Venus‚ die ihrem Status gemäß‚ andere Interessen verfolgt‚ bewirken dramatische Turbulenzen wie jene der Flucht der Anna‚ bei der gleich die halbe Flotte in Flammen aufgeht.
Und immer wieder sind hübsche‚ im satten Geschehen anachronistische Konterbande zu lesen wie das »Pingpong«‚ so daß man fast geneigt wäre‚ als Doppelung der Keckheit nun auch noch die Reimung auf »King Kong« zu erfahren. (Wovor sich der geschmackssichere Autor freilich hütet!)
Die ganze Traumszene mit der Erscheinung der Venus ist von beträchtlicher Spannung. Eine Inszenierungsform wird denkbar‚ die Leichtigkeit‚ Keckheit und erotische Poesie miteinander verknüpft‚ um heimlich auf politische Utopien zu kommen. So wird – ist nur der richtige inszenatorische Duktus gefunden – sogar die archaisch-märchenhafte Befremdlichkeit der Baumbesteigung zu Lauschzwecken durch die schöne Dido-Schwester Anna plausibel.
In einer bemerkenswerten Weise erscheinen in diesen so gewandt wie oft extrem amüsant gereimten Dialogen in marmorreinen Jamben Trug und Tücke in alten Gewändern‚ und dabei werden leichthin Sentenzen ins Gespräch geworfen‚ die den Bogen vom antiken Götterglauben zur protestantischen Bescheidung der Gegenwart schlagen: »Daß Segen uns und ein Gedeihn beschieden‚ das haben wir nicht klagbar und vertraglich.«
Und wenig später wird bei aller Perfidie‚ mit der die Handlung einem vermeintlichen Happy-End zustrebt‚ das bei Lichte besehen die Bezeichnung des launigen Stückes als »Tragödie« mehr als rechtfertigt‚ so eine durch und durch boulevardesk-flapsige Versfolge ins Gespräch geworfen‚ daß man sich vollends im heiteren Vaudeville wähnt: »Das kann ich nicht verstehen und nicht begreifen‚/ ihr sagt doch‚ daß die Dame euch gefalle‚ / warum noch weiter durch die Meere schweifen‚/ wenn hier das Beste rumsteht für uns alle.« Wobei – das muß gesagt werden‚ um Mißverständnissen vorzubeugen – das »Beste für alle« im politischen Segen der Verbindung besteht‚ nicht etwa in der Betrachtung der Dame als erotisches Freiwild.
Wie bei Tucholsky »im Film« wird auch im hier im Stück an den Stellen‚ da die Erotik zum letzten Vollzug kommen soll‚ »jewöhnlich abjeblend«‚ halten wir aber fest‚ daß dem Eros eine hübsche Verkleidung ins Sündig-Seelige eingeräumt wird‚ wenn die Grotte (!) der Vereinigung vor eben dieser recht einladend in rotes Licht getaucht wird. Und so zur Symbiose zwischen Venus-Bar‚ Venusberg und Venusfalle wird und sich in lockerer Weise um den doppelten Anachronismus solchen elektrischen wie erotischen Illuminatentums nicht schert. Nicht zu vergessen ist der Einsatz eines Verwechslungmotivs‚ das schon bei Shakespeare wie bei Arthur Schnitzler in den erotischen Wunderwelten probat ist. Didos jüngere Schwester Anna scheut sich nicht‚ sich als angeblich verjüngte Dido mit Aeneas zu vereinen.
Und der so gattentreuen Witwe Dido gestattet ihr Autor dennoch durchaus auch schon einmal geradezu clowneske Äußerungen‚ aber auch eine massive Versuchung‚ der sie widersteht. Dieser Sieg über sich selbst macht sie stark‚ vielleicht aber auch nur fatal starrsinnig.
Überhaupt sollte man das hohe Potential an Witz und Wortwitz im Stück nicht unterschätzen. Erst wenn es einer Regie gelingen wird‚ die Verknüpfung von hellenistischem Säulen- und Peplos-Dekor‚ menschlichem Fühlen und Fehlen‚ lockerer Rede in gereimten Jamben und dem unterschwelligen Wundbrand im Gegenwartsmenschen angesichts der nicht zu übersehenden Auflösung des Demos in Myriaden synthetischer massenhöriger Individual-Demokraten zu einem fesselnden Schaustück zu vereinen‚ wird aus dem Lesevergnügen auch ein Bühnenerlebnis.
Die Übernahme der Verantwortung für Staat und Menschen durch wenige‚ basierend auf einer Verabredung zur Akzeptanz der Aristokratie in ihrem Wortsinn (Herrschaft der Besten) und auf der utopischen Unterordnung unter höchste moralische Maximen in Anerkennung der Symbolkraft verdinglichter Topoi – das ist so skandalös wie als Denkspiel berechtigt angesichts einer auf allen Ebenen und in allen Erdteilen gerade zu verzeichnenden Auflösung des Tradierten in ein Chaos‚ dessen Einmündung in eine letztendlich neue Form des Menschseins – und vielleicht‚ vielleicht sogar der Menschlichkeit – nicht ausgeschlossen werden muß‚ während fraglos der Weg dorthin wie ein horribles globales‚ ja kosmisches Ungeheuer am Horizont aufscheint.
Die Metaphorik der Ureinwohner‚ ist nicht so leicht zu entschlüsseln‚ wie man vermuten könnte. Der Umgang mit ihnen scheint – scheint! – heute nicht mehr tragbare Klischees zu bedienen‚ die noch in der »Blume von Hawaii« oder in altem Indianer-B-Movie zu Klamauk und Klamotte dienten‚ doch als real unterdrückte Aborigines oder verachtete Fellachen darf man diese »Eingeborenen« nicht mißverstehen‚ auch wenn der Häuptling sich in seiner ersten Äußerung im Stück in einer herzhaften Primitivität und zum Stückende in verblüffend artiger Rede zeigt‚ die sich dann aber bei der stumpfsinnigen Wiederholung als eingetrichterte Phrase offenbart. Daß der tumbe Häuptling durch die Wiederholung des auswendiggelernten Antragsspruches sich als Depp zeigt‚ ist so bedenklich‚ wie es andererseits eine hohe Ironie in der Brechung der Idylle ist. Eine janusköpfige Volte‚ denn vielleicht siegt am Ende die Perfidie des Pragmatischen‚ des Utilitaristischen nicht über einen Unwürdigen‚ sondern über eine Spiel-Art der »edlen Einfalt«.
Deren Dolmetsch und Sprachrohr‚ der »Mundschenk« (!) aber zeigt sich als der Inbegriff des polyglotten Globalisierten und feiert alert die Wendung‚ nachdem sich Dido in einer unverbrüchlichen Nibelungentreue zu ihrem toten Gatten selbst über den göttlichen Permiß hinwegsetzt‚ ihre Moralität also über die Göttin stellt und sich in pathetischer Überhöhung selbst verbrennt. (Neue Konservative mögen hier ein Anklingen an die öffentliche Selbstverbrennung jenes französischen Rechtsintellektuellen bemerken‚ dessen Name mir nicht mehr einfällt und den das Internet bereits ausgemerzt zu haben scheint.)
Der Konflikt der Dido: treulos werden kann sie nicht‚ als sie sich da‚ wo sie in Versuchung geraten war‚ bezwungen hatte. Die Göttin dagegen ist irdisch pragmatisch. Dido metaphysisch treu. Der Fall der Göttin läutet den Kommerz ein.
Im Stück wird Timon – der Realist und Wetterwender‚ Steuermann(!) der Dido und Hofmeier – dem »Mundschenk« zum Bundsgenossen in der kommenden Diktatur des Bürgerlich-Nützlichen. Schöne neue Welt‚ wo Götter selbst den Eidbruch für den Vorteil pardonnieren.
Statt neuer Solidarität unter dem Symbol der aristokratischen Vereinigung zweier Leitfiguren wird – da Dido als Herrschergattin ausfällt – die Schönheit von der Stange aus Griechenland beschafft‚ und im merkantilen Imperialismus wird die leuchtende Zukunft gesehen‚ die statt kollektiver Anerkenhung von Mythos und Melos mit einem boulevardesken »panem et circenses« das Kollektiv betrügt und vernebelt.
Und das mag die im kapitalistischen Schein-Happy-End verborgen liegende Tragödie als solche des ganzen Stückes offenbaren. Eine fatale Perfidie des Pragmatismus. Im merkantilen Happy End offenbart sich die Tragödie.
Die beiden kürzeren Stücke im Buch »Polyphem« und »Nausikaa«‚ sind ihrem Charakter nach eher Lesestücke und ein wirkliches Lesevergnügen. Bei »Medea« bin ich mir nicht sicher‚ ob der Mut bewunderungswürdiger ist‚ einen Stoff neu zu behandeln‚ auf dem die Saat größter Genies aller Epochen aufgegangen ist‚ oder die Demut vor diesem Stoff‚ sich als ein neuer Diener an ihm in der denkbar unwirtlichsten Luft für solches Tun zu zeigen. Und Lammla gönnt der Tragödie ein mutmachendes Ende‚ läßt einen schuldloseren Jason als bei anderen Dichtern am Leben und sieht am Ende gar im Streben Hoffnung und Erlösung. Auch die Geschichte von Orpheus erzählt uns Lammla neu. Märchen und Melos: Zypressen sprechen und Mänaden toben‚ und gerade die Szenen mit den sich als rasende Nymphomaninnen Gerierenden werden zu einem komödiantischen Feuerwerk‚ wie es in keinem anderen Stück der Sammlung möglich ist. Szenen von grandioser Vitalität und köstlichem Humor. Das Titelstück »Musendämmerung« der sperrigste Text‚ der sich am schwierigsten dem Lesenden erschließt‚ denn zu vieles an gesellschaftspolitischen und religiösen Theoremen wird in etwas zu klugen Reden abgehandelt. Und das mag ein schlichteres Gemüt‚ dem in anderem Stück ja Unterhaltung versprochen und auch geboten wird‚ überfordern. Eine Beklemmung bleibt zurück: Die Apokalypse der Revolution‚ die im Stück das Museion in Schutt legt‚ – muß man sie als Warnung sehen‚ daß Europa untergehen könnte an seiner Toleranz?
Uwe Lammlas Stücke verdienen es‚ endlich ins Licht gestellt zu werden.

Lammla‚ Uwe: Musendämmerung. Dramen. 2014. 318 S. ISBN 978-3-926370-75-4 Arnshaugk Kt. 18‚– €

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