Unsere Libyen-Resolution
(Uwe Lammla)

Seit der Jahrtausendwende‚ handgreiflich veranschaulicht durch das Zusammenstürzen der asphaltverseuchten Türme des World-Trade-Centers‚ zeigt die US-amerikanische Außenpolitik eine Aggressivität‚ die selbst die Zeiten des Vietnam-Krieges in den Schatten stellt. Ein Zusammenhang mit der Überschuldung und einer allgemeinen Perspektivlosigkeit der deindustrialisierten US-Wirtschaft wurde schon früh vermutet. Dem Betrachter stellen sich die USA heute nicht mehr als ein soziales und kulturelles Gemeinwesen‚ sondern als eine einzige Militär-Maschinerie dar‚ als einen Giganten‚ der sein Waffenarsenal zurecht als seinen einzigen Reichtum begreift und geneigt ist‚ sämtliche Interessen gewaltsam durchzusetzen.
Die Kriege um den Zerfall Jugoslawiens beseitigten ausgerechnet unter einer Regierung‚ die durch Beteiligung einer Partei gebildet wurde‚ die sich als pazifistische Bewegung verstand und sich so ihren Wählern präsentierte‚ das Tabu‚ Deutschland dürfe keinen Krieg wieder führen. Wie auch immer man zu diesem Tabu steht‚ muß man feststellen‚ daß sich Deutschland in Bosien und im Kosovo nicht mit Ruhm bekleckert hat. Die Zerschlagung des Bundesstaates in lauter Gebilde von sehr eingeschränkter Souveränität und großer Abhängigkeit vom Ausland‚ hat nicht einmal das angebliche ethnische Problem ansatzweise gelöst. Es ist auch nicht dadurch "lösbar"‚ daß jede ethnische Gemeinschaft von anderen durch Sperrzäune getrennt wird und dazu gar noch Vertreibungen organisiert werden. Ethnische Differenzen gibt es in jedem Staat‚ auch in Frankreich‚ das ja immer wieder als Kronzeuge des Nationalstaates herhalten muß. Entscheidend für eine Staatlichkeit ist eine identätsstiftende Idee‚ und es ist eine große Blickverengung‚ zu meinen‚ dies könne nur die Nation sein.
In Jugoslawien wurde‚ ebenso wie schon im ersten Irakkrieg‚ ein Kriegsverbrechen begangen‚ dessen Folgen in ferne Zukunft andauern werden‚ und für das bislang kaum Bewußtsein in der Öffentlichkeit besteht. Ich meine die Verwendung von abgereichten Uran für bunkerbrechende Bomben und panzerbrechende Munition. Der Zynismus dieser Waffe ist kaum zu überbieten. Während sprengstoffhaltige Granaten teuer produziert werden müssen‚ stellt das abgereicherte Uran Problemmüll dar‚ es fällt bei Kernkraftwerken als Abfall an‚ muß teuer gelagert werden und hat keinerlei Aussicht‚ je einem sinnvollen Zweck zugeführt zu werden oder seine Gefährlichkeit zu verlieren. Aber nicht nur der negative Preis des Materials begeistert die Militärs. Uran ist von extremer Härte und durchschlägt deshalb Stahl wie Butter. Dabei entsteht durch die Reibung eine so große Hitze‚ daß das Material verdampft und im Innern eines Panzers oder eines Bunkers alles und jeden verbrennt. Mit einer gewaltigen Staubwolke legt sich das radioaktive Material in die Umgebung und wird vom Wind über hunderte von Kilometern verteilt. Erfolgen die Bombardements bei Nacht sieht man über der Feuersbrunst silberne Flitter vom Himmel regnen‚ gerade wie bei einem ausgefeilten Feuerwerk. Dies ist der Todesstaub‚ der so fein ist‚ daß er in die menschlichen Lungenbläschen eindringt‚ Leukämie oder erbgeschädigten Nachwuchs verursacht‚ der an Schrecklichkeit die Bilder des Hieronymus Bosch beschämt.
Während zum Beispiel der Einsatz von Entlaubungsmitteln in Vietnam Protestdemonstrationen in der ganzen westlichen Welt verursachte‚ geschah im Falle der beiden Irak-Kriege‚ den jugoslamischen Kriegen oder wegen Afganistan‚ wo das wichtigste Flußquellgebiet des Landes radioaktiv kontaminiert wurde‚ kaum etwas. Zum einen sehen Menschen im Westen durch steigende Arbeitslosigkeit‚ Schuldenkrise und Währungsturbulenzen ihre eigene Existenz bedroht und sind deshalb vielleicht weniger bereit‚ sich für die Sorgen der Menschen in fernen Ländern zu engagieren. Wesentlicher scheint aber der Umstand‚ daß die amerikanischen Miltärs und ihre Lakaien offenbar aus Vietnam ihre Lehren gezogen haben‚ freilich keine humanen. Zwar hatte die psychologische Kriegsführung an der Heimatfront schon seit dem Bürgerkrieg einen hohen Stellenwert beim amerikanischen Militär. Seit dem ersten Irakkrieg wurden jedoch die Methoden massiv modernisiert. So erscheinen die Luftangriffe nicht mehr als Terror gegen Zivilisten‚ sondern als chirurgische Eingriffe‚ wie sich überhaupt der "Weltpolizist" die Aura gibt‚ in medizinischer Weise Fehlentwicklungen und bösartige Geschwüre in der Weltordnung zu kurieren. Die gewünschte Wirkung entfaltet diese Propaganda allerdings nur dadurch‚ daß jegliche unabhängige Berichterstattung auf ein solch geringes Maß beschränkt wurde‚ daß eigentlich nur noch notorische Nörgeler erreicht werden.
Die Geschichte der neusten Kriege und des Ausbleibens wirksamer Proteste ist also eine Geschichte einer Mediengleichschaltung‚ die in der Geschichte ohne Beispiel ist. Es wird immer viel von der Freiheit des Internets gefaselt. Zunächst einmal wird der Einfluß des Netzes‚ als des jüngsten Massenmediums‚ stark überschätzt. Dem Fernseher macht das Netz keine ernsthafte Konkurrenz. In der Presse auch nur denjenigen Medien‚ die sich als anspruchsvoller verstehen und also nicht die Auflage von Boulevardblättern erreichen. Aber auch im Netz braucht man sich nur den Werbewert von Seiten anschauen‚ was ja ein Maß für die Zugriffsstatistik ist‚ um zu sehen‚ daß 95% der Zugriffe auf Inhalte erfolgen‚ die von den gleichen Kräften bestimmt sind‚ wie das Fernsehen und die Presse. Außerdem wird das Internet von der überwältigenden Mehrheit für Spiele und Unterhaltung genutzt und keineswegs zur Information‚ gar zur politischen.
So ist es mit dem Internet nicht anders als mit Radio Luxemburg in russischer Sprache‚ was auch im Ural über Mittelwelle zu empfangen war. Die Möglichkeit einer objektiven oder zumindest einer der sonstigen kritischen Information ist ein Papiertiger‚ wenn sie kaum jemand nutzt. Reden wir also nicht länger von großen Potenzen.
Ein entscheidender Gleichschaltungsschritt war in Deutschland die Einführung des Privatfernsehens. Das neue "objektive" Kriterium der Einschaltquote erwies sich als effektiver als jede Zensur. Die Finanzierung durch Werbung wiederholte‚ was in der Presse schon längst ein Faktum war‚ die Programmgestaltung folgte den Interessen der Werbekunden‚ also der Wirtschaft. Dabei hat sich auch in der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten eine große Entpersönlichung vollzogen. Standen früher hinter verschiedenen Unternehmen verschiedene Charaktere‚ Persönlichkeiten mit eigenwilligen Anschauungen und Ambitionen‚ so herrschen mittlerweile internationale Konsortien mit austauschbaren Managementphilosophien. Mit einer gleichgeschalteten Wirtschaft konnte die Gleichschaltung der Medien nicht ausbleiben‚ der einzelne Journalist dünke sich so unabhängig wie er meine. Wer sich nicht anpaßt‚ fliegt. Und die meisten‚ die sich anpassen‚ tilgen sorgsam diesen selbstwertmindenden Fleck‚ sie halten gar ihr Anpassertum für Unangepaßtheit. Jüngst las ich den verräterischen Satz‚ daß die Jugend Vielfalt und Gruppenidentität am besten durch Kleidung ausdrücke. Schöne neue Welt!
Der jüngste Kolonialkrieg tobt seit einigen Monaten in Libyen. Es wird vermutet‚ daß die Initative von den französischen Großbanken ausging‚ weil Gaddafi seine Guthaben nach China zu transferrieren trachtete. Was immer letzlich der Auslöser der offenen Gewalt war‚ das nordafrikanische Land war der Hochfinanz in den USA und Westeuropa seit langem ein Dorn im Auge. An der Staatsform kann es nicht gelegen haben‚ denn zum Beispiel das saudische Königshaus‚ allgemein als wenig liberal und noch weniger demokratieorientiert bekannt‚ ist einer der treusten Verbündeten der Bushs und Obamas und auch diesmal mit von der Partie. Es geht um Öl‚ Wasser und Gold. Seit Jahrzehnten haben die westlichen Mächte an dem besonders wertvollen libyschen Öl nicht den Anteil‚ den sie sich wünschen. Sie trachten Rußland und China aus dem Rennen zu werfen und natürlich auch den Anteil‚ der für das libysche Volk abfällt. Zum weiteren hat sich Gaddafi in die Nesseln gesetzt‚ weil er über Jahrzehnte das Projekt durchzog‚ tief unter der Sahara lagerndes Wasser für die Rekultivierung Nordafrikas nutzbar zu machen‚ ohne Geld von der Weltbank und anderen Instrumenten des Neokolonialismus anzunehmen. Das Projekt stand vor der Vollendung‚ die geneigt war‚ ein ganz neues Selbstbewußtsein im arabischen Raum‚ weit über die Grenzen Libyens hinaus‚ zu schaffen. Das dritte Verbrechen Gaddafis bestand darin‚ daß er beabsichtigte‚ den arabischen Ölexport länderübergreifend vom US-Dollar‚ den die FED ja nach ihrem Gutdünken druckt‚ auf das nicht beliebig vermehrbare Gold umzustellen.
Weil Rußland und China im Falle Libyens auf ihr Veto im Sicherheitsrat verzichteten (ein merkwürdiger Umstand‚ der in der Zukunft noch genauere Untersuchung verdient)‚ erschlich sich die NATO unter dem Vorwand des Schutzes der Zivilbevölkerung ein UN-Mandat zur Überwachung einer Flugverbotszone in Libyen. Dieses nutzte sie‚ um eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus Islamisten‚ saudischen Söldnern und Abenteurer aller Couleur zu einer Demokratiebeweung hochzujubeln und durch massiven Lufteinsatz zu Massakern an regierungstreuen Militärs und Zivilisten zu befähigen. Die Propaganda tönte unterbrochen von angeblichen Verbrechen der Regierung‚ die sich im nachhinein allesamt als erfunden herausstellten. Gleichzeitig wurden die tatsächlichen Verbrechen der sogenannten "Rebellen" mit allen Mitteln verschiegen. Ungehört protestierten nahezu alle Staaten Afrikas‚ was wieder einmal zeigt‚ daß deren Stimme nur dann zählt‚ wenn es den USA ins Konzept paßt. Die Proteste von Kuba und Venezuela wurden als notorische Amerikafeindlichkeit abgetan. Daß Amnesti international schwere Menschenrechtsverletzungen‚ ja Massaker an schwarzen Minderheiten belegte‚ wurde verschwiegen‚ wo doch ansonsten rassistische Ausschreitungen von der westlichen Presse um unnachgiebigsten gegeißelt werden.
Nachdem in Deutschland die wachsende Gewalt in Libyen für die Friedensbewegung kein Thema war‚ las ich vor zwei Wochen eine Petition einer Regensburger Gruppe‚ welche auf ihrer Netzseite die Vorgänge so darstellte‚ wie sie in etwa den Tatsachen entsprechen. Ich bin im allgemeinen kein Freund von Protestnoten und halte die Wirkung für gering. Wenn ich unserem Verband vorschlug‚ sich der Initiative anzuschließen‚ so nicht in der Illusion‚ durch die Stimme von ein paar Schriftstellern würde das Morden gestoppt. Eher glaube ich im Falle Libyens‚ daß wir derzeit Zeuge eines vergleichsweise harmlosen Vorspiels sind. Aber der Zynismus der Märchenerzähler hat eine Stufe erreicht‚ wo das Aufbegehren eine Frage der Selbstachtung ist. Viele Menschen‚ auch in unserem Land‚ meinen‚ sie stünden mit der Erkenntnis der Wahrheit ganz allein. Diesen muß signalisiert werden‚ daß die Minderheit der kritischen Geister aus der Deckung tritt.
Unser Vorsitzender Claus Irmscher ist auch nicht gerade ein Freund politischer Aktionen‚ und dies sage ich nicht kritisch sondern zustimmend. Der Autor soll durch sein Werk überzeugen und nicht durch Provokationen. Aber es gibt einen Punkt‚ wo man vornehme Zurückhaltung aufgeben und Haltung zeigen muß. Zu meiner freudigen Überraschung‚ sah Claus Irmscher diesen Punkt auch für gekommen an. Er formulierte einen Text‚ in dem dargestellt wurde‚ daß die soziale Situation in Libyen unter Gaddafi beispielhaft für ganz Afrika war und die angebliche "Befreiung" auschließlich aus niedrigen Motiven und dazu mit höchster Grausamkeit erfolgte. Außerdem verurteilte er den zu diesem Zeitpunkt gerade erfolgten Lynchmord an Gaddafi‚ der offenbar eine juristische Aufarbeitung seiner Regierungszeit verhindern sollte.
Claus Irmschers Rundschreiben an alle Mitglieder kam auch auf den Tisch von Dr. Jörg Bilke vom Bundesverband. Seine Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Zunächst wurde unter der Überschrift "Humanist Gaddafi" der Text als unausgegorenes Zeug abqualifiziert‚ das man eher von Gesine Lötzsch gewöhnt sei. Dem Verfasser wurde bescheinigt‚ er stecke tief im DDR-Denken und brauche Nachhilfeunterricht in Sachen Demokratie. Fast überflüssig erscheint mir der Hinweis‚ daß unser Vorsitzender diesem Schmähbrief natürlich souverän beantwortet und sich nicht etwa auf das Niveau des Angreifers begeben hat.
Die maßlose Arroganz im Schreiben Dr. Bilkes muß freilich tieftraurig stimmen. Hier preist jemand "Meinungsfreiheit" als selbstverständliches Gut‚ und empfindet gleichzeitig eine abweichende Meinung ein solche Narretei‚ das sich jegliche Diskussion verbietet. Für eine solche Einstellung ist das Wort "autoritär" zu schwach‚ man muß dies als "totalitär" empfinden. Wer vor der Leiche Gaddafis‚ zu dessen Aufspürung übrigens der Bundesnachrichtendienst die Daten lieferte‚ nicht in dionysischer Freude tanzt‚ ist ein Narr und einer von den nützlichen Idioten des Feindes.
Ich erlaube mir hier noch einmal einen Ausflug in die Vorgeschichte. Gaddafi wurde ja schon lange vor dem jetzigen Sturm in den westlichen Medien als gefährlicher Wirrkopf und Spinner vorgeführt. Seine Rolle bei dem Anschlag auf die Westberliner Diskothek in den achtziger Jahren harrt immernoch einer klaren Aufklärung‚ auch wenn er gewisse Schuld eingestanden und Bußzahlungen geleistet hat. Ich halte mich an die Dinge‚ die ich selber beurteilen kann. So laß ich 1988 im Spiegel ein Interview mit Gaddafi‚ worin dieser die deutsche Einheit als unmittelbar bevorstehend prophezeite. Die Journalisten galt dies natürlich nur als weiterer Beleg seiner geistigen Verwirrtheit. Freilich hat von denen zwei Jahre später keiner eingestanden‚ er habe Gaddafi unterschätzt. Denn der war gerade kein Thema.
Als er wieder Thema wurde‚ war er so verrückt wie eh und je. Man liest ja solche Berichte nicht in dem Sinne‚ daß man jedes Wort glaubt. Aber die häufige Wiederholung schafft doch die Meinung‚ es handle sich bei dem Porträtierten eher um einen unangehmen Zeitgenossen. Er nannte sich Revolutionsführer‚ was freilich so viele Jahre nach der Revolution und bei einem nicht mehr ganz jungen Mann‚ schon einen Ruch von Lächerlichkeit hat. In der Presse hieß er allgemein "Machthaber"‚ was nicht nur Diktator impliziert‚ sondern auch die Legitimität seiner Regierung bezweifelt. Der offizielle Titel wurde so konsequent verschiegen‚ daß ihn kaum jemand zu nennen weiß.
Es sind mir Leute untergekommen‚ die im Falle Saddam Husseins‚ also des Präsidenten des Iraks‚ meinten‚ es sei gut und wichtig‚ wenn überall in der Welt Diktatoren gestürzt wurden‚ denn man kenne Leute‚ die bitter unter ihnen zu leiden gehabt hätten. Ich will es mir nicht leicht machen‚ und diese Argumentation dadurch angreifen‚ indem ich die Motive offenlege‚ die ich bei dem Sprecher dieser Ansicht vermuten mußte. Hingegen möchte ich einmal das Für und Wider von Staatsformen und Umstürzen diskutieren.
Hannah Arendt unterschied nach dem zweiten Weltkrieg zwischen liberalen‚ autoritären und totalitären Staaten‚ ein guter Ansatz‚ der leider aus der öffentlichen Diskussion heute völlig verschwunden ist. Bewußt meidet sie hierbei das Wort "Demokratie". Dieses bedeutet ja in seinem Kerne auch nur‚ daß die Herrschaft die Zustimmung der Mehrheit des Volkes findet. Dies war z.B. im Deutschland der dreißiger Jahre der Fall‚ es sei denn‚ man vertritt die zweifelhafte Ansicht‚ Wahlergebnisse von an die hundert Prozent seien lediglich durch Terror und Einschüchterung zustanden gekommen. Im übrigen geht ja auch die Einschüchterung nicht von ein paar Polizeibeamten‚ sondern eben von der Bevölkerungsmehrheit aus. Formal entsprach also dieser Staat dem Volkeswillen.
Ein liberaler Staat erläßt Gesetze‚ die für das gedeihliche Zusammenleben unerläßlich sind‚ und überläßt das übrige dahingestellt. Er ist sich seiner Unvollkommenheit bewußt‚ meint aber‚ es sei für alle erspießlicher‚ wenn man das Widrige integiere und nicht ausgrenze. Er setzt auf Ausgleich und Mäßigung‚ nicht auf Lösung der Konflikte. Getragen von der Skepsis der Aufkärung entschuldigt er seine Mängel mit dem Argument‚ daß man eben an einen vollkommenen Staat nicht glauben könne. Nur‚ wenn man behauptet‚ es gebe keinen göttlichen Staat‚ so kann man folgerichtig auch nicht an einen teuflischen glauben. Die Behauptung‚ nicht-liberale Staaten seien die Achse des Bösen oder die Herrschaft des Unmenschen‚ ist unvereinbar mit dem liberalen Gedanken.
Wenn der Liberale dem Credo folgt‚ es solle so wenig Staat wie möglich geben und der Staat solle sich möglichst aus allem heraushalten‚ so muß er doch einräumen‚ daß dieses nur in dem Rahmen gilt‚ in dem sich die Mehrheit auf diesen Brauch geeinigt hat‚ anderswo mögen andere Prämissen gelten. Wenn jemand meint‚ der Staat solle ein Sittengesetz verkörpern und deshalb zum Beispiel Spielhöllen und Prostitution verbieten‚ ist dies keine liberale Einstellung‚ dabei aber doch nachvollziehbar eine menschliche. Über den Ordnungshüter hinaus erwarten manche Menschen auch vom Staat ihre Teilhabe an überpersönlichen Zielen. Hier sehen wir bereits den autoritären Staat‚ der einzelne fühlt sich durch die Würde und Prunkentfaltung des Königs oder auch sekulären Führers in seinem eigenen Dasein und Werk gehoben. Es gibt den anarchischen Ansatz‚ alle Herrschaft‚ die nicht rein funktional ist wie im idealen Liberalismus‚ sei angemaßt und beruhe auf der Torheit der Untertanen. Ein solches Universalcredo über alle Menschen ist freilich nicht liberal‚ sondern totalitär. Denn während die Autorität das Dach des Verschiedengestaltigen ist‚ bezeichnet die Totalität die Gleichschaltung aller.
Totalitarismus legt Hand an die Wurzeln des Lebens. Aus diesem Grunde wird überall‚ wo der Totalitarismusvorwurf zurecht besteht‚ über kurz oder lang eine Erstarrung eintreten‚ die in ein Verwesungsstadium übergeht. Die Volksgemeinschaft der Jasager geht schließlich an ihrer eigenen Ideenlosigkeit zugrunde.
Wenn wir das Liberale‚ Autoritäre und Totalitäre philosophisch fassen‚ zeigt sich‚ daß keines real in Reinkultur existiert‚ für die Beurteilung eines Staates ist deshalb maßgeblich‚ worin die Haupttendenz der öffentlichen Ordnung liegt.
Hannah Arendt hätte das Libyen Gaddafis unter die autoritären Staaten gezählt. Jede Herrschaft muß sich ungeachtet der Frage ihrer Legitimität zwischen dem Volk und den Mächtigen ausbalancieren. Mächtige sind dabei zunächst die Reichen‚ zum anderen aber auch lokale und geistige Autoritäten‚ in Libyen also Stammesführer und islamischer Klerus. Leute‚ die in großstädtischer Zivilisation leben‚ neigen dazu‚ alle Welt nach ihren Kriterien zu beurteilen. Die Lebenswirklichkeit eines Nomaden in der Wüste ist jedoch eine andere. Seine Vorstellungen von Ordnung unterscheiden sich fundamental vom Städter. Wenn man in traditionellen Gesellschaften Wahlen allgemeiner Stimmgleichheit durchführt‚ erhält man keinen adäquaten Ausdruck des Volkswillens. Vielmehr wird eine Mentalität‚ der ein Denken in parlamentarischen Parteien völlig fremd ist‚ gezwungen‚ in diesen Kategorien eine Entscheidung zu fällen. Wenn das Ergebnis von Wahlen im arabischen Frühling ein Triumph von Parteien des islamischen Fundamentalismus ist‚ so wäre es falsch‚ zu schlußfolgern‚ daß die Mehrheit dieser Länder fundamentalistisch eingestellt sei. Vielmehr wird der Krampf dieser aufgezwungenen politischen Partizipation mit einem Krampf quittiert.
Gaddafi ist die Balance zwischen Volk und Mächtigen in Libyen gelungen. Darauf beruhte seine Autorität‚ die über den Tod hinausreicht. Es wurde ja bereits gemeldet‚ daß einige Stammesfürsten einen Sohn Gaddafis zum neuen Führer ausgerufen haben‚ was für diesen freilich nun Lebensgefahr bedeutet.
Wenn der Liberale die Welt als heilos ansieht und seine Aufgabe darin sieht‚ das Übel zu begrenzen‚ so wird er den autoritären Staat nur zu stürzen helfen‚ wenn dieser seine Autorität bereits eingebüßt hat. Davon kann aber in Libyen keine Rede sein.
Der Frage eines Ausgleichs zwischen Volk und den Mächtigen stellt sich natürlich in jedem System‚ auch im liberalen Staat. Daß sich im Parlamentarismus der Regierungswechsel so geräuscharm vollzieht‚ zeigt ja bereits an‚ daß die eigentlichen Machtfragen nicht davon betroffen sind. Die Mächtigen‚ bei uns eigentlich ausschließlich Konzerne und Banken (der Wüstenstaat Libyen mutet dagegen geradezu bunt an)‚ haben Regierung und Opposition in gleicher Weise in der Hand. Damit zeigt sich die Nachtseite des liberalen Traums‚ die Destruktion der politischen Entscheider verlagert die eigentliche Macht in intransparente Spären‚ in die Chefetagen der Wirtschaft. Wenn man den westlichen Politikern Volksferne vorwirft‚ so ist dafür nicht ihre Bildung oder ihre Mentalität entscheidend‚ sondern ihre reale Abhängigkeit von den Königen des Kapitals. Dies ist in einem autoritären Staat weniger ausgeprägt‚ weshalb sich der paradoxe Schluß ergibt‚ daß eine nicht vom Volk gewählte Herrschaft volksnaher sein kann als eine gewählte.
Diese Gedanken sollen weder Gaddafi noch die autoritäre Staatsform idealisieren. Sie sollte lediglich ein paar Fragezeichen gegen die illiberale Selbstgerechtigkeit setzten‚ die in den liberalen Staaten nicht nur von den Mächtigen‚ sondern auch von jenen‚ die ihnen vertrauen‚ gepflegt wird.



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