Ästhetik der Entschleunigung
(Wilhelm Castun)

Betrachtungen über das Reisen und Reisetagebücher nehmen in Ernst Jüngers Werk einen breiten Raum ein. Da scheint es nicht zu passen‚ daß unter den vielen Büchern über Ernst Jünger bisher keine Monographie über den Reiseschriftsteller war. Dies hängt mit der besonderen Weise zusammen‚ mit der dieser Autor wahrgenommen wird.
Ernst Jünger hat bis 1932 politisch radikale Positionen vertreten und entsprechende Konzepte entwickelt. Als es populär wurde‚ sich über althergebrachte Hemmungen hinwegzusetzen‚ wandte er sich angewidert ab und sah‚ daß Ausnahmepositionen nur in äußerster Verflachung Gemeingut werden können. Nach diesem Verlust einer in sich geschlossenen Weltsicht‚ hat er keine neue entwickelt‚ auch wenn er immer mal wieder Ansätze zeigte. Seine Aufgabe als Autor sah er jetzt im Blick auf das Detail‚ die Nuance. Nicht der Deuter beherrscht den Chronisten‚ sondern umgekehrt.
Immer wieder hat man Jünger in seinem langen Leben auf eine neue – oder die alte – Linie festlegen wollen‚ und kein Buch kann sich um eine Einordnung in die Geistesgeschichte im »Weltbürgerkrieg« drücken. Auf das Thema des Reisens gebracht: Verdammt Jünger das moderne Reisen oder rechtfertigt er es? Weder das eine noch das andere‚ zumindest nicht ohne Vorbehalt. Die Frage ist falsch gestellt. Um den eigentlichen Jünger zu entdecken‚ muß man sich selber vorher »entschleunigen«‚ also nicht bündige Antworten auf die Streitfragen der Zeit erwarten‚ sondern die Dinge sprechen lassen‚ das heißt‚ ihnen vielfältige und durchaus widersprüchliche Aspekte abgewinnen.
Von der Gliederung erscheint das Buch wie eine Biographie‚ wobei die Eckpunkte die politischen Wandlungen des Jahrhunderts sind: Weimarer Zeit‚ Vorkriegszeit‚ Krieg‚ Nachkriegszeit‚ fünfziger Jahre und Spätwerk. Dabei wird eine Disproportion deutlich‚ die vierzig Jahre seit 1960 nehmen im Buch 14 Seiten ein‚ die zwölf Jahre unter Hitler dagegen 125. Hier meint man zunächst‚ der Autor würde dem Touristen Jünger kleine Ausflüge und Begegnungen im Krieg vorziehen. Dies ist ein Irrtum. Der Autor zeigt vielmehr‚ daß Jünger im Dritten Reich als gerade damals besonders gut verdienender Autor touristische Möglichkeiten wahrnahm‚ die wir deshalb mit dem Wirtschaftswunder verbinden‚ weil sie erst dann einer größeren Anzahl von Menschen zur Verfügung standen. Was in dem Buch ganz deutlich wird‚ ist‚ daß Jünger nicht etwa dann reiste‚ wenn sein Werk die Notwendigkeit einer Reise zeigte‚ sondern dann‚ wenn er es sich finanziell leisten konnte. Er verhält hier nicht anders als die meisten Deutschen.
So erklärt sich auch der besondere Schwerpunkt auf der Hitlerzeit. Was er später tat‚ wiederholte und variierte seine Art des Reisens‚ aber die Eigenart seiner Reiseprosa ist bereits in den dreißiger Jahren voll ausgebildet. Der Autor reflektiert das Erlebte in verschiedenen Masken‚ in der humboldtschen Tradition universaler Bildung‚ im romantischen Heimweh nach der Vormoderne‚ im nietzscheschen Gipfelglück‚ in der hölderlinschen Abgeschiedenheit. Diese Dinge werden in Webers Buch sehr anschaulich ausgebreitet. Interessant auch Jüngers Aufenthalt in Norwegen‚ wo er sogar mit dem Gedanken spielt‚ wie sein Reisefreund Hugo Fischer‚ für den dieser Urlaub ein Sprungbrett nach England war‚ auszuwandern. Ein Naturerlebnis mit kathartischer Wirkung: »Gestern auf dem Berge hatte ich das Gefühl‚ mich zum ersten Male wirklich vom Weltkrieg losgelöst zu haben; eine Last fiel von mir ab‚ die ich solange getragen hatte‚ daß ich sie nicht mehr aufzunehmen vermochte.« Man wird daran erinnert‚ daß der Reisen-sich-Leistende und Reisen-Genießende mit durchaus einigen snobistischen Zügen ein tief Gezeichneter war‚ man hat das Wort »Frontkämpfergeneration« so oft gehört‚ das man es nicht mehr ganz ernst nimmt. Aber natürlich hat sich Jünger in Norwegen nicht von dem Trauma erholt‚ sondern mußte es tragen bis zum Tode. So erscheint es mir bei näherer Betrachtung auch nicht verwunderlich‚ daß er in die Heimat kehrte‚ gerade weil ihm Unheil schwante.
Wenig später erfüllt sich Jünger einen Kindheitstraum‚ er lernt in Brasilien den tropischen Urwald kennen. Hier ist er bereits Entomologe‚ aufmerksamer Beobachter der Natur‚ aber auch der Verkehrstechnik und der Gesellschaft. Die multikulturelle Welt Brasiliens erscheint ihm vor dem Hintergrund der Bestrebungen zuhause‚ ein einheitliches Staatsvolk herzustellen‚ wohltuend. Ob er sich damit immer der Perspektive des Touristen bewußt ist‚ muß offen bleiben.
Das Buch macht sehr gut deutlich‚ daß Jüngers später viel umfangreichere Reisebücher immer auf seinen ersten Fernreisen basieren‚ Eindrücken‚ die er gewann‚ als er in der Frage des Reisens noch privilegiert war. Man lernt die Beobachtungen als Beobachtungen zu nehmen und nicht als Agumentationsmaterial eines wie immer gearteten Fazit. Das Buch entschleunigt den Leser. Deshalb ist es sehr zu empfehlen.

Weber‚ Jan: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher. 2011. 400 S. ISBN 978-3-88221-558-8 Matthes & Seitz Gb. 39‚90 €

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