Der Kristall. Schwimmstunde
(Wilhelm Castun)

Der Wort »Verschwörungstheorie« hätte gute Chancen‚ es einmal zum Unwort des Jahres zu schaffen. Kaum eine unbequeme Deutung‚ die nicht schon einmal mit diesem Totschlagargument bedacht wurde und sich dagegen verzweifelt wehrt. Höchste Zeit‚ in dem Unwort mal einen positiven Sinn zu suchen. Das fällt überraschend leicht. Die Schöne Literatur ist mit dem Wort »Verschwörungstheorie« gar nicht so unzutreffend bezeichnet. Spielerisch für den Leser‚ aber toderst für den Helden‚ verschören sich Umstände und Gegner‚ Ahnen und Götter‚ betrogene Ehefrauen und mißgünstige Kollegen. Für ein nicht unwesentliches Publikum gehört es zum literarischen Minimum‚ daß im Geschehen eine Person gewaltsam zu Tode kommt. Eine fiktive Welt ist aber noch aus einem anderen Grunde »Verschwörungstheorie«. Sie setzt mit ihren Personen‚ Orten und Konstellationen eine Vorgeschichte voraus‚ die der Leser stillschweigend annehmen muß‚ wenn sie ihm der Autor nicht vorsetzt.
Es gibt Autoren erfolgreicher »Verschwörungstheorien« und recht erfolglose. Manches ist dabei eine Frage der Vermarktung. Unstrittig ist aber auch‚ daß es talentierte und weniger talentierte Autoren gibt. Wenn man beim Talent weiter nachfragt‚ kommt man rasch in einen mystischen Bereich. Es gibt viele Dinge‚ die man lernen und richtig machen kann‚ aber sie alle sind letztlich nicht wirklich entscheidend. Auch Autoren bezweifeln die Freiheit in ihrem Tun. Was der Leser Talent nennt‚ nennen sie Inspiration und bleiben genauso dunkel.
Geht man einen Schritt weiter‚ dann ist der Autor‚ der in seinem Schreiben nicht frei ist‚ ein Opfer derselben Verschwörung‚ die auch alle seine Helden und Gestalten im Griff hat. Nikolaos Katsouros zieht in seinem Roman den Schrecken einer solchen überpersönlichen Verschwörung konsequent durch. Er bekennt‚ er habe das Manuskript auf langen Bahnreisen verfaßt. Wer selber viel Bahn zu fahren hat‚ wird dies verstehen. Eingesperrt in ein Gefährt mit hermetisch verschlossenen Türen und Fenstern‚ eingereiht zwischen Leute‚ die jeweils auf ihre Art die tödliche Langeweile des Wartens zu bewältigen suchen‚ sind Ideen der Fremdbestimmung nur allzu verständlich. Im Gefängnis darf man (außerhalb der USA) wenigstens eine Zigarette rauchen‚ diese Möglichkeit des scheinbaren Flüchtens hat die Bahn ausgemerzt.
Der »Kristall« ist ein Manuskript‚ das geschrieben werden will und dazu Autoren verslavt. Und zwar nicht nur einen. Eine lebendige Welt bedarf vieler Vorgeschichten. Das Manuskript‚ dessen faßliche Spitze eine Zusammenfassung moderner Wahnideen genannt werden darf oder kürzer »political correctness«‚ gipfelt in einer elitären Emanzenclique‚ die von einem Hamburger Kristallpalast aus die Strippen zieht. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Gebäuden und Organisationsstrukturen sind natürlich rein zufällig. Um diesen Glanz möglich zu machen‚ geschehen seit Jahrhunderten schreckliche Dinge in Büchern‚ wobei den Lesern‚ Autoren und Gestalten der Bezug zum Kristall niemals aufgeht. Aber dann geschieht etwas Unvorhergesehenes. Ein Autor‚ der bereits für den Kristall arbeitet‚ vernichtet mit Hilfe seiner Frau eine Romangestalt‚ die ihn beherrscht und auf Linie trimmt. Die Schwestern der Führungsetage sind entsetzt. Wie konnte das gelingen? Ein Agent wird losgeschickt. Der kann nur erfahren‚ daß die echte Liebe des Autors und seiner Frau eine Macht darstellt‚ vor der das Blendwerk des Kristalls versagt. Die Antwort wird mit Hohn quittiert‚ denn der Kristall und seine Diener kennen nur die Lust und die Macht‚ nicht aber die Liebe. Sie vermuten eine Schutzbehauptung‚ um die Waffe zu verbergen‚ mit der die Frau des Autors in den Augen des Kristalls natürlich genauso nach der totalen Macht strebt wie der Kristall selbst.
Eine Geschichte des Kampfes von Gut und Böse‚ und es gibt auch eine Entscheidungsschlacht am Schluß wie im Hollywoodfilm. Das ist aber nur eine Ebene. Der Kristall kann nur in seiner derzeitigen Erscheinungsform untergehn‚ wenn erst geringe und dann immer größere Teile von ihm gerettet werden. Das Happyend ist also ein sehr vorläufiges. Und es hat in seiner Theatralik auch etwas Aufgesetztes und Selbstironisches. Auch die ödeste Bahnfahrt kommt irgendwann an ihr Ende. Beeindruckt haben den Rezensenten eher einige Eigenheiten‚ bei denen er gern offenlassen will‚ ob sie dem Willen des Autors oder dem Selbstverständnis des Manuskripts entsprungen sind. Auf der Bahnreise pokern der Autor und der auf ihn angesetzte Agent mit ganzem Einsatz‚ und sie spielen auch dann weiter‚ wenn eine Verstellung‚ ein Posten‚ eine Schutzbehauptung längst unwiderleglich verloren sind. Auf der einen Seite der lebendige und liebende Autor‚ auf der anderen die reine Funktion eines versklavenden Systems. Aber es gibt Punkte des Rollentauschs. Wo sich der lebende Mensch als Ignorant‚ die tote Funktion aber als »durch Mitleid wissend« entpuppt. Der Reiz des Romans besteht darin‚ daß die Rechnung eben nicht aufgeht‚ nicht nur nicht die Rechnung des bösen Manuskripts‚ sondern auch nicht die des Autors. Er setzt sich mit dem auseinander‚ was durch ihn schreibt‚ aber es bleibt dabei‚ es schreibt durch ihn und wird durch ihn schreiben.
Ein hochmoderner Roman aus antimoderner Position‚ unbedingt zu empfehlen. Auch die zweite Geschichte des Buches »Schwimmstunde« hat es in sich. Das Rekursionsprinzip‚ die leicht verstellten Spiegel des »Kristalls« nutzt der Autor hier selbst‚ um ein traumatisches Erlebnis zu beleuchten. Im Schwimmunterricht verabreden sich Schüler‚ einen Außenseiter unterzutauchen und so lange am Auftauchen zu hindern‚ bis dieser Todesangst spüren muß. Im Eingang zitiert der Autor Nietzsche‚ daß jede Gemeinschaft »irgendwann irgendwie« gemein mache. Die Tendenz ist hier keine konservative‚ auch wenn der Außenseiter einem »linken« Zeitgeist gegebenübersteht und als Unternehmerkind ausgegrenzt wird. Spätestens mit der Herschaft linker Ideologen hat zwangläufig die Vorstellung‚ daß das Individuum links vom Kollektiv zu stehen habe‚ ausgedient. Unabhängig vom links-rechts-Schema bleibt freilich der Widerspruch von Einzelnem und Gemeinschaft ein ewig neu zu bewältigender. Der Rezensent ist deshalb froh‚ daß das etwas plakativ geratene Jugendwerk des Autors nicht sein letztes geblieben ist. In dem zuerst im Buch angedruckten »Kristall« zeigt sich eine sehr viel reifere Sicht auf diese Dinge.

Katsouros‚ Nikolaos: Der Kristall. Schwimmstunde. Romane. 2015. 228 S. ISBN 978-3-944064-30-7 Arnshaugk Gb. 19‚80 €



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