Ein Jahrhundertleben
(Wilhelm Castun)

Ich muß zugeben‚ daß ich vor der Lektüre Bedenken‚ oder sagen wir besser‚ negative Vorurteile hatte. »Ernst Jünger in Bilder und Texten« (1988)‚ »Ernst Jünger zu Ehren« (1990)‚ »Ernst Jünger zum Hundertsten« (1995)‚ »Incontri con Ernst Jünger« (1999) – als »Ein Jahrhundertleben« 2007 gebunden und dann 2010 als Taschenbuch erschien‚ da dachte ich‚ hier verwalte jemand das Leben Jüngers‚ als wären dies seine Pfründe. So etwas kommt ja oft genug vor. Und so lieh ich mein Ohr den Einflüsterern‚ die boshaft vorzählten‚ wie oft oder wie selten der Name Heimo Schwilk in Ernst Jüngers Tagebüchern vorkäme.
Was ich dem Buch am wenigsten zutraute‚ war eine souveräne Deutung der Jahrhundertgestalt‚ die im Titel versprochen wurde. Aber genau dies ist dem Autor gelungen. Das erste mal erstaunte ich‚ weil das erste Kapitel »Konversion« überschrieben ist. Als nach Jüngers Tod die Konversion bekannt wurde‚ waren Argumente dergestalt zu hören‚ daß man ja in so hohem Alter gewisserweise natürlich katholisch würde und sich in eine überpersönliche Tradition stelle. In die gleiche Richtung zielten Kommentare zur Bibellektüre‚ dies sei nun mal der Katzenjammer nach einem verlorenen Krieg. Daß es Ernst Jünger ernst sei mit der »Zeitmauer«‚ wollten die Nihilisten nicht zugestehen.
Ernst Jüngers Leben führt die Gebrochenheiten seines Jahrhunders exemplarisch vor‚ es ist leicht‚ ihm Inkonsequenz und Ausflüchte vorzuwerfen‚ wobei es gleichgültig ist‚ von welchem politischen und weltanschaulichen Standpunkt aus man das tut. Außerdem stößt es auf Unverständnis‚ das jemandem die Haltung wesentlicher als die Gesinnung ist. Das Soldatische ist eben gerade nicht »militaristisch«‚ es zielt auf den Einzelnen‚ nicht auf die Uniform.
Der sichere Ton‚ mit dem Schwilk den Bogen von Jüngers Eltern‚ dem Dreikaiserjahr‚ in dem auch Nietzsches »Antichrist« erschien‚ und den späten Wilflinger Jahren‚ in denen Jünger immer stärker mit den Toten korrespondiert‚ spannt‚ zeigt‚ daß die lange Beschäftigung mit dem verehrten Schriftsteller außerordentlich fruchtbar war. Dies gilt nicht nur für die Konzeption‚ sondern auch für den Beleg im Detail. Bei der Auswahl aus dem schier unerschöpflichen Material zeigt der Autor eine ausgesprochen glückliche Hand.
Ich schäme mich meines Vorurteils. Daß sich jemand mit einer geradezu klösterlichen Akribie einem einzigen Gegenstand‚ hier einem reichen und überreichen Leben‚ widmet – ist diese Beschränkung nicht geradezu genau die Entschleunigung‚ die Jünger uns immer wieder nahezubringen versuchte? Heißt es nicht bei Goethe‚ daß sich erst in der Beschränkung der Meister zeige?
Die umfangreiche Biographie liest sich kurzweilig und doch niemals läppisch‚ weil die Schwerpunkte richtig gesetzt sind und überall die Tugend der Beschränkung waltet. Hier versucht nicht einer‚ alles zu sagen‚ was er weiß oder erfahren hat‚ sondern er wählt sorgsam aus‚ was er bringt. So werden die Kapitel weder karg noch überfrachtet. Diese Biographie macht Mut‚ nicht nur‚ weil das beschriebene Leben Mut macht‚ sondern auch weil Umfang und Konsistenz der Darstellung in idealem Verhältnis scheinen. Da sage mal einer‚ heute gelinge nur noch Aphoristisches! Die Faulheit stellt jeder bloß‚ der ein Übermaß an Fleiß mit Liebe und tiefer Einsicht vermählt.

Schwilk‚ Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. 2014. 648 S. ISBN 978-3-608-93954-5 Klett-Cotta Kt. 24‚95 €

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