Rebellen des Geistes
(Wilhelm Castun)

Seit es Wissen und Wissenschaft gibt‚ wird gestritten. Die Philosophie‚ mitunter als Königsdisziplin bezeichnet‚ geht dabei voran. In ihr ist sogar strittig‚ was überhaupt Gegenstand des Grübelns‚ Forschens und Auslegens sei und sein solle. Übersetzt man das griechische Wort‚ so bezeichnen sich die Philosophen als "Freunde der Weisheit"‚ worin Skepsis und Bescheidenheit zu Ausdruck kommen. Nicht "Weise" wollen sie sein‚ sondern Freunde und Diener der Weisheit. Natürlich herrscht auch über diese Setzung keine Einmütigkeit‚ sie ist aber inzwischen so alt und so nobel gefaßt‚ daß niemand direkt widersprechen mag.
Die Philosophien und philosophischen Bücher und Aufsätze sind in Ansatz und Struktur so vielfältig‚ daß jeder Versuch einer Klassifizierung und Systematik aussichtslos bleibt. Einzig in einem Punkte besteht Konsens: Nahezu jedes philosophische Denken ist eng mit seinem Schöpfer verbunden‚ in der Grenzenlosigkeit dieses Denkens erscheint die Persönlichkeit des Denkers als ein archimedischer Punkt‚ und dies ganz unabhängig davon‚ ob der jeweilige Denker diesen Umstand besonders betont oder nachgerade zu verschweigen trachtet. Darum lassen sich Philosphien eigentlich nur zeitlich ordnen. Für vergangene Zeiten‚ in der sich verschiedene Kulturkreise noch in relativ großer Autonomie entwickelten‚ kommt zur Zeit noch die Weltgegend.
Weil ein anderer Generaleinstieg gar nicht möglich ist‚ erfreuen sich Philosophiegeschichten großer Beliebtheit‚ und manche bringen es zu großen Auflagen. Jede Philosopiegeschichte muß natürlich aus der Fülle der geistigen Hervorbringungen der Zeiten und Völker den winzigen Teil auswählen‚ der zwischen die Buchdeckel paßt. Dabei wird die Anzahl der ausgewählten Philosophen auch dadurch eingeschränkt‚ daß eine zu kurze Darstellung jedes einzelnen Denkers dem Denker eine solche Gewalt antäte‚ daß eine Geschichte mit sehr vielen Namen paradoxerweise die inhaltsärmste wäre. Das Kriterium der Auswahl ist‚ wenn wir Verstand und redliche Absichten voraussetzen‚ die Einschätzung‚ inwieweit das jeweilige Denken in der Gegenwart universitär oder öffentlich rezipiert und als relevant empfunden wird. Man wird also in Philosophiegeschichten notwendig jene Denker vermissen‚ deren Ansätze nicht von Zeitgenossen fortgeführt oder argumentativ ins Spiel gebracht werden und deren Sinnträchtigkeit und Problemlösungs-Kompenz niemals in Verbindung mit den Fragen der Gegenwart geprüft wurde.
Schon deshalb bleibt die Philosophie ein Abenteuer und im Leben vieler – auch großer – Philosophen ist es spektakulär‚ welche vergessene oder mißverstandene Denker der Vergangenheit der Philosoph neu entdeckt und zuweilen populär gemacht hat. Wenn Richard Reschika in seinem neusten Buch alternative Denker vorstellt‚ die in Philosophiegeschichten fehlen‚ soll damit nicht behauptet werden‚ in einem von diesen liege der Schlüssel zu einer weitertragenden Weltdeutung eher als bei den Phiosophen‚ die in keiner Philosophiegeschichte fehlen. Es ist auch ein Charakteristikum der Philosophie‚ daß solche Fragen nie abschließend beantwortet werden können. Tausend kluge Leute lesen dasselbe philosophische Buch und stimmen darin überein‚ daß es sich um eine Arabeske‚ ein Kuriosum und eine Art anspruchsvolles Glasperlenspiel handle. Aber dem tausendundesten Leser schließt sich eine völlig neue Welt auf – oder eben nicht. Auf diesen Pfaden ist alles offen.
Abgesehen von den drei amerikanischen Transzendentalisten‚ die eine gewisse Traditionslinie darstellen‚ könnte die Mischung in Reschikas Buch kaum heterogener sein. Ich verspreche Ihnen einen Sprung ins kalte Wasser. Paul Thiry d`Holbach rief mit seinem Skandalbuch Abscheu und Entsetzen hervor‚ auch Goethe und Voltaire lehnten des Buch ab. Doch für das Gros der naturwissenschaftlich orientierten Denker wurde es die Bibel des Materialismus. Mit dem Niedergang der materialistischen Weltauffassung geriet es in Vergessenheit. War also das die ganze Aufregung nur ein verübergehender Dissenz oder zeigt dieses Buch lithosphärische Verwerfungen des Abendlandes an‚ die schon morgen wieder ein Erdbeben auslösen können? Ebenso könnte man fragen‚ ob die amerikanischen Freilust-Denker von den Hippies und später von den Grünen legitim beerbt wurden oder ob vielleicht ganz andere – und vielleicht gegenläufige – Fortsetzungen dieser Entwürfe anstehen? Warum blieb Wladimir Sergejewitsch Solowjow mit seinen Einheitsbemühungen der Christenheit so erfolglos‚ obwohl doch alle christlichen Kirchen wissen‚ daß sie sich die Streitereien schon lange nicht mehr leisten können? Warum bezieht sich im 20. Jahrhundert‚ in dem die Geschlechtsliebe eine extreme öffentliche Aufwertung erfuhr‚ niemand auf diesen Vorkämpfer? Könnte es sein‚ daß dieser Denker bis heute bei links und rechts in gleicher Weise unverstanden bleibt? Und warum ist die so? Und was hat es mit dem verstörenden Bild Hegels von der "Eule der Minerva" auf sich‚ dessen Rätsel so gar nicht zu dem System-Architekten und Geist-Optimisten passen will? Könnte es gar sein‚ daß ein so viel gelesener Philosph wie Hegel falsch rezipiert wird?
In dem Maße wie die Modekonjunktur von Soziologie und Psychologie abflaut‚ hat die Philosphie in den letzten zwanzig Jahren eine steigende Leserschaft gefunden. Auch wenn die akademische Philosophie davon wenig mitbekommen hat‚ kann dies nur dahingegend interpretiert werden‚ daß die Infragestellungen unserer Selbst- und Kulturverortungen radikaler geworden sind‚ daß zunehmend im Kern und nicht an der Fruchtschale nach Fäulnis gesucht wird.
Das Buch von Richard Reschika ist ein guter Anreger zum Eintauchen in die Welten alternativen Denkens‚ nicht nach einer bestimmten Seite‚ sonder sternförmig in alle Richtungen. Der Erfolg bleibt offen. Aber die Lektüre ist in jedem Falle vergnüglich und kurzweilig. Und ein Blick ins Register zeigt sogleich an‚ daß es eben nicht nur um die Außenseiter geht‚ bei diesen Themen ist immer die ganze Geistesgeschichte dabei.

Reschika‚ Richard: Rebellen des Geistes. Sieben Profile. 2014. 263 S. Arnshaugk. ISBN 978-3-944064-21-5 Gb. 19‚90 €

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