Die amerikanische Krankheit (Wilhelm Castun)Georg Milzner ist nicht nur ein bekannter Psychologe und Therapeut sondern auch Dichter und Schriftsteller. In einer Zeit in der auch Geistes- und Sozialwissenschaften einer immer stärkeren Spezialisierungsbewegung unterliegen versucht er wissenschaftliche und allgemeinmenschliche Betrachtung wieder zusammen zu bringen ohne sich dabei der Verflachung effektorientierter Popularkanäle anzudienen. Der Amoklauf den sein neustes Buch behandelt wird hier nicht als kriminalistischer oder klinischer Sachverhalt thematisiert sondern als Phänomen der Kultur. Dies ist allein ein provokanter Ansatz.
Der klassische Amoklauf den man als spontanen Ausbruch von Zorn und Zerstörungsbereitschaft deuten kann hat sich zu einer modernen Erscheinung gewandelt: dem geplanten Massaker. Diese sind nicht Einzelereignisse Folge tragischer Verkettungen sondern Symptome einer allgemeinen gesellschaftlichen Erkrankung.
Die amerikanische Krankheit ist nicht der Amoklauf als solcher. Denn dieser ist nur die sichtbare und oft allzu isoliert betrachtete Oberfläche einer kranken Gesellschaft der Egoismen. Wie die große Literatur aller Zeiten zeigt der Autor die gesellschaftlichen Mythen auf welche die Gewalteskalation tragen und bedingen. Dabei wird der Mythos durchaus in seiner Ambivalenz gezeigt als kollektives Unbewußtes daß eine Gesellschaft ermöglicht und auch zerstört.
Augenfällig ist beim Amoklauf zunächst die Omnipräsenz von Schußwaffen in den USA. Die Forderung greift jedoch zu kurz Präsident und Kongreß sollten endlich mal die Legalität der allgemeinen Bewaffnung einschränken. Eine entsprechende Initiative hätte vermutlich wenig Aussicht auf Erfolg weil sie von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und deshalb hintertrieben würde. Durch pure Verbote sind Mythen nicht zu besiegen. Das Recht Waffen zu tragen war auch im vormodernen Europa ein wesentliches Gut des Freien. Im allgemeinen Landfrieden wurde dieses Recht durch die Pflicht des Staates ersetzt jeden Untertan vor Gewalt zu schützen. In der Besiedlungsgeschichte Nordamerikas war die Staatsräson lokal begrenzt der »Western« als Roman und später als Film pflegt den Mythos der Stärke. Fernab von Regierung und Diplomatie setzt sich der Siedler gegen Indianer Betrüger Schutzgelderpresser und Viehdiebe mit dem Revolver zur Wehr. Dieser Mythos verlor sich nicht mit der Urbanisierung des Kontinents er lebte weiter als »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« wo es der tüchtige »Tellerwäscher zum Millionär« schaffen würde. Auch heute wo außerhalb der USA der »Tellerwäscher«-Mythos oft nur mitleidiges Kopfschütteln findet meint dennoch die Mehrheit der Amerikaner daß Gott ihr Land besonders liebe und pflegt in allen erfolgreichen Filmen und sonstigen Unterhaltungen den Mythos des unerschrockenen Einzelkämpfers der durch Waffenkunst das Recht erst setzt.
Das neoliberale Europa bezieht nicht nur seine Massenkultur aus den USA es übernahm auch die Werte der Ellenbogengesellschaft. Der preußische Grundsatz man solle mehr sein als scheinen gilt als überholt. Es kommt darauf an etwas darzustellen sich nicht unter Wert zu verkaufen bildlich gesprochen mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Wem dies nicht in der gesellschaftlich akzeptierten Weise gelingt der wird leicht zu einem Liebhaber der Waffe und wer alle Mühe und alle Intelligenz in den Dienst des Wunsches stellt Waffen zu besitzen dem wird es auch gelingen welche zu haben die Gesetze seien wie sie wollen.
Zum Waffenmythos kommt der Robin Hood-Mythos der einsame Rächer der Stummen und Bedrückten. Die moderne Seele kommt nicht ohne diesen Mythos aus. Dies hängt damit zusammen daß sie selbst ihre Legitimität aus dem gewaltsamen Sturz der Tradition bezieht. Wo Revolutionen Attentate »Befreiungs«-Kriege gefeiert werden muß jeder der die Umstände seines Lebens für heillos erachtet in der Ansicht einer grundsätzlichen Erlaubtheit der Gewaltanwendung bestärkt werden. Hinzu kommt daß im Zuge fortschreitender Säkularisierung das christliche Mitleid unter einen Generalverdacht gestellt und keineswegs als allgemeiner Wert gepriesen wird.
Das dritte ist der Kult des Individualismus. Gerade jener der wenige induviduelle Züge in seiner Persönlichkeitsstruktur vorfindet wird mit einem unerträglichen Manko konfrontiert. Der Egozentrismus wuchert dort wo alle Erfolgreichen und Geachteten ihre Egomanien nicht etwa schamhaft verschweigen sondern ins Scheinwerferlicht stellen als seien diese der Schlüssel ihres Erfolgs. Unseligerweise sind sie das sogar oft. Der Autor zeigt mit Untersuchungen von Einstellungen und Verhaltensweisen von Managern und Führungskräften daß Gewaltphantasien und dissoziale Haltungen durchaus karriereförderlich sind.
Beispielhaft zeigen sich die Mythen und Durchsetzungsstrategien der modernen Gesellschaft in der Sexualität wo die Fragen von Macht und Wunscherfüllung auch für den schlichtesten Charakter fundamental sind. Die Liebe war schon immer der Punkt wo sich kollektive Mythen im Einzelschicksal zum Drama oder zur Tragödie verdichten. Gerade im Sexuellen zeigt die Gesellschaft des Warenfetischismus ein extremes Janusgesicht zum einen wird jedermanns Recht und jedermanns Pflicht zur Rücksicht auf den anderen postuliert zum anderen werden Sadismus und andere Perversionen in einer Weise industriell produziert und vervielfältigt daß auch das krankeste Hirn keine solche Fülle entwickeln könnte.
Es soll hier nicht das ganze Buch erzählt werden. Wer Georg Milzners Analyse gelesen hat der wundert sich eher daß Dinge wie in Emstetten Winnenden oder Erfurt nicht noch häufiger vorkommen als daß er sich über die Schrecknisse als solche wundert. Dagegen muten die therapeutischen Ansätze des Autors bescheiden an. Aber das ist kein Einwand. Bescheidenheit ist eine große Tugend gerade im Umgang mit dem Schrecken und der Macht des Mythischen in der menschlichen Seele und im menschlichen Handeln. Lernen kann man in diesem Buch daß diese allgegenwärtige Bedrohung von Glück Leben und Freiheit nicht an den Rändern der Gesellschaft wächst sondern gerade in ihrer Mitte.
Milzner Georg: Die amerikanische Krankheit. Amoklauf als Symptom einer zerbrechenden Gesellschaft. 2010. 192 S. ISBN 978-3-579-06871-8 Gütersloher Verlagshaus Gb. 1799 €
Zum Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift
|