Vereister Sommer (Wilhelm Castun)Engel heißt es seien unterwegs zuweilen in der Uniform der Feinde Gottes. Im Frauengefängnis Hoheneck wird einer Mutter der drei Monate alte Sohn weggenommen und in ein Heim der Volkspolizei gebracht. In ihrer Not stößt die Mutter Verwünschungen aus die angezeigt ihr zusätzliche Jahre Gefängnis bringen würden. Aber der Chef der Anstalt verbietet seinen Untergebenen eine solche Anzeige. Im Anblick der Not einer Mutter müsse man einen solchen Ausbruch hinnehmen.
Immer wieder stellt der Autor solche Zeichen in seine Schreckenschronik des Stalinismus. Nach seiner Geburt verschweigt die Mutter die Identität des Vaters Spott und Verachtung der Wachmannschaften wie der Mithäftlinge tapfer ertragend. Sie weiß daß Kinder die Besatzungssoldaten zum Vater haben in sowjetischen Heimen verschwinden. Ihre Mutter die Großmutter des Autors darf den Jungen schließlich abholen und bei einer befreundeten Familie in Pflege geben bis die Mutter nach Stalins Tod durch eine Amnestie freikommt.
Es war die große Liebe. Die Mutter war sogar bereit in Stalins Rußland leben um ihren Geliebten heiraten zu können. Aber die Vorgesetzten des jungen Offiziers sagen »Njet!« fordern eine Beendigung des Verhältnisses und veranlaßten eine Überwachung. Wie sie schließlich erfahren daß eine Flucht in den Westen Deutschlands erwogen wurde bleibt bis zum Schluß des Buches dunkel. Als die Mutter im Untersuchungsgefängnis ihrem Geliebten gegenübergestellt wurde sieht sie ihn in Uniform mit intakten Schulterstücken. Als sie schließlich zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt wird sagte man ihr der Offizier habe 25 Jahre Lager bekommen. Aber sie bezweifelt dies und sie bricht völlig mit Rußland und weigert sich deshalb auch später der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft beizutreten. Für den Sohn der viel später nach dem Zusammenbruch des Kommunismus seinen Vater sucht ist die Frage jedoch bedeutunglos ob der Vater vielleicht um dem Tod durch Erschießung zu entgehen seine Mutter belastet hat. Er weiß daß das russische Volk viel mehr unter dem Stalinismus gelitten hat als das deutsche.
Das Buch beginnt im letzten Jahr des alten Jahrhunderts als der Sohn sich zum zweiten Male aufmacht seinen Vater zu treffen nun bereits sekundiert von dessen Söhnen. Anfang der neunziger Jahre hatte ihn der Vater am Telefon abgewiesen die Mutter immer noch in Furcht vor dem mächtigen Reich im Osten hatte ihn beschworen sich nicht weiter in Gefahr zu bringen. Sie hatte allen Grund den Wagemut des Sohnes zu fürchten. Dieser hatte in der DDR immer nur die Kirche als Heimat betrachtet und war nach drei Jahren Theologiestudium wegen »staatsfeindlicher Hetze« verhaftet und verurteilt worden. Als sie ihn in der Untersuchungshaft sprechen darf fragt sie ihn mutig wieder alle Regeln ob er geschlagen werde. Der Vernehmer empört sich später über diese Frage muß aber hinnehmen daß ihn Schacht darauf hinweist daß seine Mutter eine Zeit erlebt habe wo Folter im politischen Strafprozeß die Regel und nicht die Ausnahme war.
Im Buch sind die verschiedenen Zeitebenen kunstvoll verschachtelt. Der Prozeß der Mutter ihre Freilassung und das Entsetzen der Pflegeeltern daß sie den Sprößling wieder herausgeben müssen der Prozeß gegen Schacht selber seine Erfahrungen mit den westdeutschen Linken welche die stalinistischen Verbrechen leugnen oder schönreden die nachwendliche Zeit und sein Besuch bei dem Richter der ihn einst zu sieben Jahren verurteilte und schließlich der Weg zum Haus des Vaters und das erste Treffen mit diesem.
Der Richter macht eine schlechte Figur. Er betont seinen Katholizismus und die Kraft der Beichte ansonsten spricht er meist über seinen schlechten Gesundheitszustand. Er habe sonst nur Mordprozesse geführt und es täte ihm unendlich leid. Schacht für den die christliche Vergebung selbstverständlich ist kommt immer wieder auf die »tätige Reue« zu sprechen worauf sich der Richter windet und windet und ausweicht.
Es sollen hier nur ein paar Schlaglichter leuchten aus einem Buch daß ein beispielloses Zeitdokument und zugleich eine große Dichtung ist. Letzteres ist nicht nur eine Frage des erzählerischen Könnens. Es wird gezeigt daß Dichtung eben nicht raffinierte Erfindung ist sondern daß die Wirklichkeit phantastischer ist als alle Konstruktion und daß die wahre Poesie im humanen Blick auf Schrecken und Größe Feigheit und Mut Schuld und Vergebung liegt.
So führt der Gang durch die Hölle schließlich zur Auferstehung. Ausgerechnet zum Ostertag treffen Vater und Sohn nach einem halben Jahrhundert aufeinander. Sie mögen sich nicht nur auf Anhieb sie entdecken die tiefe Verwandtschaft im gestikulierenden Palavern in ihrer Leiderschaft für Politik und der Streitbarkeit dabei in Eigenheiten wie der Leidenschaft in der Kochkunst und auch in Narrheiten wie etwa der Liebe zu Waffen. Eine große Familie trifft sich und der Vater sagt zum Sohn wenn Bundeskanzler Schröder nach Rußland käme so solle er nicht Geld mitbringen sondern fordern daß die Russen endlich tüchtig arbeiteten.
Als der Sohn von Moskau aus die Mutter in Hamburg anruft und vom Treffen mit dem Vater berichtet wehrt sie zunächst ab und zeigt sich desinteressiert. Aber auch dieses Eis wird noch gebrochen. Der Sohn appelliert an die Weiblichkeit. Er erzählt daß der Vater immer noch mächtig Kraft habe und wie ein jünger Hüpfer die steile Stiege zum Dachgeschoß hinaufgehüpft sei. Seine holländischen Begleiter seien ganz fasziniert von der stattlichen Erscheinung gewesen. Der Hausherr habe stolz betont alles selbst mit seinen Jungs und guten Freunden gebaut zu haben und zur Begrüßung ein Glas mit Birkensaft gereicht. Und dann kommt nach langer Pause vom anderen Ende der Leitung ein weiches und zugleich stolzes »Er war ja auch damals schon ein toller Typ!«
Der Sohn lebt mittlerweile nicht mehr in Deutschland sondern in Schweden aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Er zeigt jedenfalls nicht nur im Rückblick daß der deutsche Protestantismus nicht gänzlich zum Gutmenschen-Geschwätz verkommen ist sondern christliche Liebe und Vergebung durchaus mit Streitbarkeit Ehre Treue und tiefer Verwurzelung zusammengehen können.
Schacht Ulrich: Vereister Sommer. Auf der Suche nach meinem russischen Vater. 2011. 221 S. ISBN 978-3-351-02729-2 Aufbau Verlag Gb. 1995 €
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