Pru�en die ersten Preu�en
(Wolfgang Sch�hly)

Der Rezensent gesteht‚ vor der Lektüre dieses Buches eine nur unscharfe Kenntnis über die Prußen‚ ihre Geschichte und Kultur‚ und schließlich ihren Untergang als eigenständiges Volk besessen zu haben. Doch die Lektüre dieses vom Thema her vielleicht trocken anmutenden Gegenstands baltisch-deutscher Geschichte erwies sich als höchst anregend und ungeahnt bildend. Wenn man der Autorin Glauben schenken darf‚ so bewegen sich die üblichen Informationsquellen‚ und besonders diejenigen des Internets‚ zu diesem Thema im Dunstkreis von Interessengruppen und lancierten Diskursen‚ und verschleiern den sachlichen Blick auf die bewegte Geschichte der Prußen‚ und zwar bis in die heutige Zeit hinein. So sei dieses Buch jedem ans Herz gelegt‚ der sich ein Bild über die‚ manchmal ungenau als Altpreußen ausgegebenen‚ Prußen machen möchte‚ jedoch vor einer eigenen Durchforstung der fachwissenschaftlichen Literatur zurückscheut.
Ausgangspunkt ihres umfangreichen Werkes‚ das – wie die Autorin in ihrem Vorwort betont – eine prußische Innensicht darstellt‚ war für die Autorin die jahrelange Erfahrung aus der Moderation von Internetforen für Ahnenforschung resp. Foren zur historisch-politischen Diskussion. Somit stellt das Buch die an Laien gerichtete Essenz zur prußischen Geschichte dar‚ wie sie die Autorin‚ selbst aus einer im Memelgebiet ansässigen Familie‚ die 1945 fliehen mußte‚ höchst glaubwürdig vertritt.
Die baltisch sprechenden Prußenstämme‚ die in einem v.a. gegen Süden und Westen nicht allzu genau umrissenen Gebiet zwischen Weichsel und Minge‚ im Süden bis Drewenz‚ Ossa und Narew siedelten‚ waren ein Volk‚ das vornehmlich Ackerbau‚ Jagd‚ Tierzucht und Handel betrieb. Von den in der Nachbarschaft lebenden Polen bedrängt und im 13. Jh. durch die von den Polen zu Hilfe gerufenen Deutschordensritter schließlich unterworfen und christianisiert‚ erhielt sich die prußische Sprache und Kultur‚ darin eingeschlossen prußisch-heidnisches Brauchtum‚ noch lange Zeit weiter. Die prußische Bevölkerung‚ zunächst ausgenutzt und von der Obrigkeit mit Frondiensten und Abgaben eingedeckt‚ führte in der zweiten Hälfte des 13. Jh. einen ausgedehnten Freiheitskampf‚ der jedoch langfristig die Eroberung durch den Deutschen Orden nicht aufhalten konnte. Nach der Besiegung des Ordens durch Polen unter der Verstärkung von Litauern in der Schlacht von Tannenberg (1410) wurden vom Orden angeworbene Söldner und deutsche Adlige mit Grundbesitz abgegolten‚ der Grundstein des ostpreußischen Großgrundadels entstand. Erst Friedrich Wilhelm I. (Soldatenkönig) schafft eine grundlegende Verbesserung der eingesessenen Prußen in Ostpreußen und führte durch die Ansiedelung der salzburgischen Glaubensflüchtlinge in den von der Pest heimgesuchten und wirtschaftlich jahrzehntelang darniederliegenden prußischen Gebieten neue Kräfte zu. Friedrich d. Gr. schließlich veranlaßt großflächige Melioration; auch führte er im Gebiet die allgemeine Schulpflicht ein.
Die Prußen‚ denen es schließlich unter der Herrschaft des Deutschen Ordens besser ging‚ als den unter polnischen Feudalherrschern stehenden Litauern‚ konnten ihre ethnische Identität bis c. 1750 bewahren‚ gingen dann jedoch zunehmend kulturell und sprachlich in der von Deutschen‚ Polen und Litauern geprägten Gesellschaft auf. Als eine Möglichkeit der Selbstintegration in diese durch Adelsprinzipien geprägte Gesellschaft diente das Militär. Mithin zeugt es von Unverständnis‚ die Integration der Prußen in die damalige Adelsgesellschaft Ostpreußens als Zwangsgermanisierung zu verstehen‚ viel eher muß man mit der Autorin von einer – wohl aufgrund der überwiegenden Vorteile – real stattgefundenen Selbstgermanisierung sprechen.
Auf unserer kulturgeschichtlichen Reise zu den Prußen erfahren wir Einzelheiten zur Lebensweise der Prußen‚ wie das tägliche Leben in dieser kargen Landschaft gemeistert wurde‚ wie Fischerei und häusliches Leben über Jahrhunderte im Gleichklang mit der Natur bestanden. Wir lernen längst vergangene Gewerbe kennen‚ wie z.B. die Waldbienenzucht (Zeidlerei)‚ sozusagen eine Urform der Imkerei‚ bei der die Bienen in ausgehöhlten Kiefernstämmen gehalten wurden. Erst nach siedlungsbedingter Einbuße von Wald wurde die Imkerei zunehmend auf‚ zunächst primitiv anmutende sog. Klotzbeuten‚ umgestellt.
Detailliert wird in diesem Buch auf die Sprache der Prußen‚ die zu den baltischen Sprachen zählt‚ eingegangen und auf die Etymologie von prußischen Namen‚ insbesondere Ortsnamen (Toponymie)‚ und Wörtern des täglichen‚ von der ländlichen Lebensweise geprägten Lebens‚ hingewiesen. Sprachbeispiele‚ wie z.B. das Vaterunser in den verschiedenen Mundarten des Prußischen werden gegeben‚ aber auch Erntegebete‚ Wiegenlieder und das Ostpreußenlied. Das Prußische‚ das oftmals als ein litauischer Dialekt abgetan wird‚ verdient die Aufmerksamkeit der Sprachforscher. Hier weist die Autorin auf den noch großen Forschungsbedarf hin und macht anhand von Beispielen klar‚ daß die prußische Dialekte eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung verdienen. Das Siedlungsgebiet der zwölf Prußenstämme wird ausführlich behandelt‚ inklusive einer Ableitung ihrer Namen‚ Angaben zu Geographie‚ Geschichte und zum mythologischen Stoff. Zusammen mit ausführlichen Kapiteln über die Kultur‚ Sitten und Gebräuche sowie die (Natur)-Religion der Prußen wird ein lebhaftes Bild der Kultur dieses Volkes entworfen‚ dessen Siedlungsraum von der Natur keineswegs begünstigt war.
Abgerundet wird der Band durch ein Verzeichnis einiger Orts- und Gewässernamen‚ durch die Auflistung und Erläuterung der Königsberger Stadtteile‚ eine Liste baltischer Gottheiten‚ sowie eine Zeittafel und umfangreiche Literaturverweise‚ auch aus elektronischen Medien. Auch läßt sich anhand einer Zeittafel rasch Überblick gewinnen‚ sollte man einmal den z.T. recht dicht gefaßten Text zu flüchtig gelesen haben.
Zu den verbesserungswürdigen Dingen des Buches gehören die eher unschönen Karten‚ manche recht grobe Wiedergabe eingescannter Abbildungen‚ die Verwendung der neuen Orthographie‚ die der Rezensent immernoch als leseerschwerend wahrnimmt‚ sowie die nicht ganz wenigen Druckfehler und typographischen Schnitzer. Mit gutem Recht hat die Autorin in ihrer sich an Laien richtenden Abhandlung auf die direkte Angabe der zitierten Quellen verzichtet. Dennoch wäre es bei den zahlreichen Abbildungen‚ z.B. den Stichen alter Ortsansichten‚ interessant zu wissen‚ wann sie entstanden sind.
Fazit: Der literarische Ausflug in das Land der Prußen ist lohnend und der geschichtspolitische Ertrag der Lektüre für den Leser erhellend. Pradigmatisch lassen sich am Beispiel der Prußen das Schicksal und die Stadien des langsamen Verschwindens eines Volkes von der Landnahme durch fremde Mächte im Mittelalter über Assimilation bis hin zur Vertreibung 1945 studieren. Mit klaren Worten drückt die Autorin ihr Unbehagen angesichts einer nicht sachlich geführten Diskussion aus‚ insbesondere mit dem Hinweis auf die Vereinnahmung prußischer‚ aber auch ostpreußischer Eigenart und Kultur durch die Protagonisten eines Kleinlitauen. Verschleiert wird in der heutigen‚ oft Propagandazwecken dienenden Diskussion‚ die fast 700-jährge Zugehörigkeit des Memelgebiets zum deutschen Herrschaftsbereich. Aus Szillis-Kappelhoffs Werk ergeht somit auch klar der Appell zur Aufarbeitung so manchen Kapitels deutsch-polnischer Geschichte. Licht in den Dschungel der Geschichte zu bringen‚ wird zwar dadurch erschwert‚ daß manche Quellen (z.B. die Ordensarchive) bis heute nicht allgemein zugänglich sind‚ jedoch ist die allgemeinverbreitete Unsitte‚ Geschichte und Bedeutung von Völkern je nach politischen Vorgaben umzudeuten‚ hinreichend bekannt. Dieser Praxis stellt die Autorin ihr sachlich fundiertes und durchweg unpolemisch gehaltenes Werk über die Prußen entgegen.

Szillis-Kappelhoff‚ Beate: Prußen - die ersten Preußen. Geschichte und Kultur eines untergegangenen Volkes. 2014. 395 S.‚ Abb. u. Ktn. ISBN 978-3-938176-48-1 Lindenbaum-Verlag Kt. 19‚80 €

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