Erdfahrt
(Dieter Wolf)

Holger Uske lebt in Suhl‚ ist Pressesprecher seiner Heimatstadt und langjähriger Vorsitzender des Südthüringer Literaturvereins. Der Lyrikband beinhaltet 58 Gedichte aus den zurückliegenden zehn Jahren und besteht aus drei Kapiteln: Der Klang der Stunde / Erdfracht / Begegnungen. Abbildungen der Werke der Grafikerin und Holzbildhauerin Beate Debus‚ die in Oberalba in der Rhön lebt‚ begleiten die Gedichte. Ihre Bilder entfalten‚ dies wird sofort durch den Betrachter spürbar‚ zwischen Abstraktion und Konkretion eine ganz eigene Poesie. Zur Illustration des Bandes dienten Arbeiten in Mischtechnik‚ teils mit Prägung. Bereits in Uskes Buch »Magische Momente« waren Arbeiten von Beate Debus enthalten. Das Titelbild trägt den Namen »Aufstand«. Wie passen »Aufstand« und »Erdfahrt« zusammen? Wogegen richtet sich der Aufstand und wohin führt die Erdfahrt? Was verbindet beides? Gleich das dritte Gedicht – »Der Rückfall des Dienstags auf Montag« (S. 9) gibt Anlaß zu Vermutungen.
                        »Wetterberichte
                        Wie Stundenschläge
                        Der Wind‚ sagt er
                        Immer dieser Wind
                        Blickt vom Balkon…«
Es scheint‚ der Dienstag hat sich nicht an die vorgesehene Reihenfolge gehalten. Auf S. 16 begegnet uns »Der Stoff‚ aus dem die Tage sind«:
                        »Ich bin es selbst‚
                        Der ihn webt
                        Sich an ihm reibt
                        Ihn wegwirft‚ anlegt
                        Tarnkappe‚ Flügel
                        Bleimantel morgens…«
Gleich das nächste Gedicht trägt den Titel »Langsamer fallender Tag« und im Gedicht »Mitten am Tag« (S. 22) findet sich die auf den ersten Blick kryptische Schlußstrophe‚ die nicht zwingend an Ostern erinnern muß:
                        »Fell über Ohren
                        Schweigestimme Licht
                        Wer aber
                        Spielt«
Und auch das letzte Gedicht »Abreißkalender« in diesem Kapitel beschäftigt sich‚ wie mehr oder weniger alle anderen‚ mit dem Thema Zeit.
                        »Woran werden wir
                        Hüfthoch in Blättern stehend
                        Gemessen«
Diese Frage muß sich jeder selber beantworten. Also wagen wir unerschrocken einen Versuch und folgen wir dem Fanal zum Aufstand. Zu den großen Versuchungen des 21. Jahrhunderts gehört es noch immer‚ Meßbarkeit und Wirklichkeit miteinander zu verwechseln. Aber die Wirklichkeit ist allemal größer als das‚ was wir messen können‚ dies haben auch die profiliertesten Meßingenieure eingesehen. Die uns umgebende Welt gibt sich überhaupt keine Mühe eindeutig zu sein. Früher gab es klare und eindeutige Gesetze‚ nach denen sich alles auszurichten hatte‚ und Unberechenbares war nicht vorgesehen. Doch nun entdeckt man immer tiefgründiger: Alles ist miteinander verwoben und alles ist voneinander abhängig.
Im zweiten Kapitel »Erdfracht« heißt es im Gedicht »Blickwinkel‚ Außerirdisch« (S. 51):
                        »Jedes Wort ein Faden
                        Im feinen Netz des Alls«
Auch hier überrascht die Inbeziehungsetzung der einzelnen Gedichte in Themenfelder. So heißt es beispielsweise im Gedicht »Bewegt« auf S. 31:
                        »Tief im All
                        Das Erdgehäuse
                        Staubumwirbelt
                        Windzerzaust
                        Blau geädert
                        Wege‚ die wir
                        Ziehen können
                        Lichtgezeichnet«
Im dritten Kapitel »Begegnung« heißt es im Gedicht »Mai in Untermaßfeld« (S. 64):
                        »Löwenzahnwiesen
                        Tigern ums Dorf
                        Wie Fahrzeughorden
                        Wolkenhügel
                        Wie Worte
                        Manch eines
                        Legt sich Abends
                        Auf den Schlaf. Der uns flieht
                        Nach Tagen‚ verfangen
                        In Satzgeflechten‚ Wortgefechten
                        Nach Tagen der Löwenzahnstille
                        Zeit kreist uns ein…«
Die Objektivität ist ein bewegtes Beziehungsgefüge‚ von dem wir ein Teil sind. Unsere Objektivität ist nur ein Ordnungssystem‚ welches wir geschaffen haben‚ um eine bestimmte Form von Erkenntnissen zu gewinnen. Das Starren auf Nützlichkeit und Verwertbarkeit gehört oft zu den größten Hindernissen‚ wenn wir versuchen‚ unsere Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern. Das Ordnen von Wahrnehmungen nach bestimmten Regeln und Mustern ist die Anfangsstufe des Denkens‚ die zweite Stufe ist das Zulassen von Unordnung und die dritte Stufe mitunter die Poesie. Wer sich immer wieder auf die Bewegungen des Lebens und die Beziehungen zwischen den Dingen ausrichtet‚ wird nach und nach in einer anderen Welt leben. Auch die Bilder von Beate Debus veranschaulichen: Drei Dimensionen und die Zeit reichen für das Leben nicht aus. Hinter der Fassade von Licht und Wetter gibt es niemals den gleichen Garten. Es wäre Frevel‚ so zu tun‚ als ob es nur eine nüchterne‚ abstrakte Welt gäbe. Die Wirklichkeit hat eine persönliche Note‚ keinesfalls einen allgemeinen Charakter‚ sie kann gar nicht für alle gleich aussehen. »Bei Greiz« (S. 73):
                        »Unterm Wind
                        Ankern die Farben‚ suchen
                        Die Felder ihr Haus«
Woher stammen all diese glücklichen Einfälle? Wie heißt es so schön: Was wirklich zählt ist Intuition. Die Wirklichkeit verhält sich in diesem Buch still und wartet darauf entdeckt zu werden.

Uske‚ Holger: Erdfahrt. Gedichte. 2011. 88 S.‚ farb. Graph. ISBN 978-3-9364559-61-0 Quartus Kt. 14‚90 €

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