Skizzenbuch einer Wanderschaft
(Uwe Haubenreißer)

Geboren im November 1924‚ gehört Horst Köhler einer Generation an‚ die als Zeitzeuge oft übergangen wird. Aber sie hat‚ aufgewachsen mit den Idealen klassischer Bildung‚ über die Kahlschläge der Geschichte etwas gerettet‚ dessen sie bereits zum Überleben in Kriegs- und Notjahren bedurfte und das auch in den übersättigten Zeiten des Orwellschen Endstaates zweifellos Mangelware bleiben wird: einen kultivierten‚ hohen Stil‚ einen sicheren Blick für das Echte und Wesentliche sowie den Mut zu Form und Schönheit – auch gegen das Verdikt modernistischen Zeitgeschmacks.
Nach Krieg und langjähriger Kriegsgefangenschaft seiner Vaterstadt für immer entrissen‚ hat der Autor in den Fünfziger Jahren in Norddeutschland ein zweites Zuhause gefunden. Neben Familie und kaufmännischem Beruf im neuen Lebensmittelpunkt Bremen blieb Horst Köhler stets der schriftstellerischen Arbeit verschrieben. So hat der seiner Heimat innig verbundene Nordhäuser viele Kindheits- und Jugenderinnerungen liebevoll in Prosa-Miniaturen und längeren Erzählungen aufbewahrt und der Vaterstadt bei zahlreichen Lesungen zum literarischen Geschenk gemacht.
Ein weiteres Werk aber wuchs im Stillen heran‚ bedurfte auch dieser Zurückgezogenheit‚ um zu reifen: die Gedichte. Vom Autor unter dem Titel »Skizzenbuch einer Wanderschaft« geführt und lange Zeit nur in einer sehr kleinen Auswahl der Öffentlichkeit bekannt‚ stehen hier Verse und Strophen von großer Meisterschaft‚ in denen nicht nur das äußere Erleben‚ sondern auch innere Zwiesprachen‚ Träume‚ Visionen‚ Zweifel und Hoffnungen eine poetische Heimstatt gefunden haben.
Dem über neunzigjährigen‚ in den letzten Jahren von schwerer Krankheit gezeichneten Dichter lag viel daran‚ seine dreibändige Werkausgabe genau mit diesem Buch zu eröffnen – das lyrische Schaffen aus siebzig Jahren ist hiermit erstmals in seiner Gesamtheit erlebbar. Der Autor hat es in zwanzig Gedichtkreisen zusammengestellt‚ wovon das vorliegende Buch neunzehn vorlegt. Die ausgesparte Sammlung satirischer Verse wird im dritten Band der Werksausgabe enthalten sein.
Die Zuordnung der über zweihundert Gedichte unter die neunzehn Kapitel folgt nur grob einem chronologischen oder thematischen Konzept – zu vielgestaltig‚ ja gegensätzlich im nahen Detail und doch auch vom Fernblick aus der Höhe sich wiederum gleichend ist das auf langer Wanderschaft Geschaute‚ als daß man es wie bunte Postkarten bequem in ein paar Schubkästen sortieren könnte. So stehen den Sammlungen Titel vor wie »Auf des Sommers Straßen«‚ »Zwischen Staub und Sternen« oder »Spätes Leuchten‚ schwindender Klang«‚ die den Inhalt zwar andeuten‚ aber doch eher nur als kurze poetische Einstimmung vorklingen wollen.
Die Gedichte selbst sind von großer‚ sprachlicher Schönheit und formal makellos – man sollte den Begriff »Skizzenbuch« also nicht wörtlich nehmen. Hingekritzeltes oder Fragmentarisches wird man hier nicht finden – und für manches Meisterstück wird Horst Köhler wohl einiges an Schmierblättern zerknüllt haben‚ bevor es als Reinschrift Eingang in die Sammlung fand. Aber jenseits aller namentlichen Koketterie ist mit dem Titel doch der ernste‚ große Zusammenhang angesprochen: Noch ist die Wanderung nicht zuende‚ das Leben mäanderte schon durch so viele Landschaften und hält doch bis zum Schluß noch Überraschungen bereit. Die Ziele wechselten mit den Jahren‚ unzählige Stationen wurden durchlaufen‚ nicht alle davon bewußt‚ manche auch mit falscher Wahrnehmung. Mal Hast und Eile‚ mal Ödnis und Langeweile. Tag und Nacht‚ blaue Stunden‚ Dämmerung. Bergauf‚ bergab‚ querfeldein. Sonnenschein und schlagende Wetter. Breite Magistralen‚ Feldwege‚ schattige Alleen. Schienen‚ Trampelpfade. Allein‚ zu zwein‚ in der Schar. Umwege‚ Irrwege‚ Rückwege. Sackgassen. Was blieb im Leben nur Wunsch‚ Entwurf‚ Skizze? Was hat sich – in Glück und Unglück – erfüllt? Es spricht für die Wahrhaftigkeit des Autors‚ daß er seine poetische Lebensgeschichte so zurückhaltend betitelt hat. Ebenso sprechen einige Gedichte dafür‚ bei denen Horst Köhler offenbar auf eine stärkere Überarbeitung verzichtet hat. Zeilen‚ wo der Strich zittert‚ die Konturen verschwimmen‚ wo der Reim ausbleibt‚ der Rhythmus entgleist. Es sind dies Strophen‚ denen man immer noch anmerkt‚ unter welcher emotionalen Anspannung sie entstanden – in der Kriegsgefangenschaft‚ in den ersten Bremer Hungerjahren‚ im traurigen Rückblick auf die zerstörte Heimatstadt Nordhausen‚ beim Verlust geliebter Menschen‚ nach verständnislosen Vorwürfen Jüngerer gegen seine Lebensgeschichte. In diesen Texten wird deutlich‚ wie wichtig dem Dichter stets der Rückzug in die poetische Sprache war‚ ein Refugium‚ das ihm half‚ über die dunklen Wegmarken des Lebens hinaus fortzuschreiten. Zuerst als Gegenwelt inmitten Kälte und Grausamkeit‚ später als Schutzschild gegen die Mißlichkeiten des Alltag‚ dann als Hort der liebenden Rückerinnerung an die Vaterstadt – und in den letzten Jahren mehr und mehr als stille Klause des Wanderers‚ der zur großen Ruhe einkehren will und das abendliche Zwiegespräch mit seinem Gott sucht.
Horst Köhlers lyrische Sprache ist auf einem hohen Niveau‚ dabei völlig frei von Künsteleien und Hermetismen. Der formale Aufbau ist von klassischer Gediegenheit‚ zumeist wird die vierzeilige Strophenform verwendet. Reimgedichte überwiegen‚ es gibt auch einige Texte ohne vordergründigen Reim und ohne strenges metrisches Schema – gleichwohl sind diese doch vom Autor mit Bedacht strukturiert‚ was beim ersten Lesen vielleicht übersehen wird‚ auch findet das aufmerksame Auge (und Ohr) lose eingestreute Reimworte‚ die nur scheinbar zufällig sind und die Zeilen fast unsichtbar zu einem stimmigen Korpus binden.
An dichterischen Bezügen wären die Romantiker‚ hier vor allem Eichendorff zu nennen‚ schon wegen der Wanderer-Thematik‚ die sich durch das gesamte Werk zieht. Aber auch Goethe‚ besonders hinsichtlich der weltanschaulichen Dimension mancher Texte. Und Rilke‚ von dem der Autor sagt‚ er habe besonders in der Beschäftigung mit dessen Werk das eigene Dichtertum erkannt. Die sprachliche Könnerschaft und der hoher Gestus vieler Gedichte zeigen diese gute Schule – und zwar‚ ohne irgendwo Tonfall oder gar Sujet nachzuahmen. Sie führte zu harmonischer Reife‚ was an intuitiver Musikalität und Sinn für Spracharchitektur bereits in Horst Köhlers frühen Versen der Vierziger Jahre angelegt war.
Das »Skizzenbuch« kann als originäres Werk für sich stehen. Was es an Bildern und Erkenntnissen eines langen und erlebnisreichen Lebens versammelt‚ trägt auf jeder Seite den unverwechselbaren Handstrich des Autors.

Köhler‚ Horst: Skizzenbuch einer Wanderschaft. Gesammelte Gedichte. 2014. 307 S. ISBN 978-3-944064-13-0 Arnshaugk Lw. 28‚– €

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