Jargon der Weltoffenheit
(Wilhelm Castun)

"Wer für alles offen ist‚ der kann nicht ganz dicht sein." Ein solcher Witz wäre nicht nur für einen Fernsehmoderator das Ende seiner Karriere‚ auch auf deutlich bescheideneren Niveau bestünde kein Zweifel‚ daß hier die guten Sitten stark verletzt werden. Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt‚ daß der Sprecher die witzige Formulierung gewiß nicht ernst gemeint habe. Es sei denn‚ der Sprecher ist schon einmal als Kleber von NPD-Plaketen oder mit anderen Unaussprechlichkeiten ewig Gestriger aufgefallen.
Weltoffen sind alle. Das heißt‚ sie sind 1. für Selbstbestimmung‚ 2. für Gleichstellung‚ soziale Gerechtigkeit‚ 3. für Tolerenz und 4. für Vielfalt. Und die meisten glauben‚ dies sei ein Erfolg der Kulturrevolution von 1968. Sogar die Nicht-Weltoffenen‚ die bösen Rechten‚ sehen den schwarzen Peter für all dies bei 68. Einer‚ der wirklich dabei war‚ räumt diesen Mythos beiseite. Frank Böckelmann‚ Philosoph und Kommunikationswissenschaftler‚ beteiligte sich mit Dieter Kunzelmann‚ Rudi Dutschke und Bernd Rabehl an der Subversiven Aktion‚ ehe er sich viele Jahre mit der Zeitschrift "Tumult" in unangepaßter Weise den Zeitfragen stellte. Der westliche Lebensstil‚ der mit im Zeitalter von Mobiltelephonen und virtuellen sozialen Netzwerken auf einen Höhepunkt zutrudelt‚ wurde nicht von 68ern inszeniert‚ sondern stellt die Endphase der Massendemokratie dar‚ die sich in Amerika schon in der Zwischenkriegszeit entwickelte und die Westeuropa nach 1945‚ Osteuropa nach 1990 übergestülpt wurde. Von den Aktivisten von 1968 haben sich freilich einige medienwirksam an ein Programm gehängt‚ das ohnehin lief. Besonders einsichtig ist das bei der sog. sexuellen Befreiung‚ für welche die Pille mehr bewirkte‚ als es 1000 Studentenrevolten gekonnt hätten. Man lese‚ empfiehlt der Autor‚ mal eine sexuologisches Fachbuch aus dem Jahre 1960. Man sieht‚ daß die 68er offene Türen einrannten.
Die Linke hingegen verstand sich nie als hedonistisch‚ der einzelne sollte sich dem Kollektiv unterordnen‚ alle dem Kampf für eine bessere Zukunft. Nach Böckelmann hat die Linke nicht nur nicht gesiegt‚ sie existiert überhaupt nicht mehr. Wer sich heute "links" nennt‚ sagt damit lediglich‚ daß er noch etwas nachdrücklicher das fordert‚ was alle fordern.
Der Autor stellt politische Manifeste der späten 60er neben zeitgleiche Hervorbringungen der Werbebranche‚ etwa die Anpreisung eines Parfüms. Die Ähnlichkeit ist frappierend und veranlaßt den Autor‚ die hier beschworenen Werte genauer unter die Lupe zu nehmen. Kommen wir zur Selbstbestimmung‚ ein Wort‚ das die früheren Worte Emanzipation und Selbstverwirklichung immer mehr verdrängt. Schon diese Tendenz ist verräterisch. An der Emanzipation klebte nämlich noch ein Rest Inhalt‚ zwar kein positiver‚ sondern nur ein negativer‚ also Emanzipation von den Eltern‚ der Geschlechterrolle‚ der Armut etc. Die Selbstverwirklichung hat‚ freilich nur schemenhaft‚ so etwas wie eine Platonische Idee einer Bestimmung und Berufung‚ die nicht willkürlich geändert werden kann. Selbstbestimmung ist völlig leer‚ eine totale Autonomie des Individuums‚ die nur durch die Selbstbestimmung anderer eingeschränkt werden darf. Es muß also genug für jedermann dasein. Das geht selbstredend nur bei industrieller Massenware. Diese wurde aber nicht produziert‚ weil sich das der – ach so autonome – Käufer so wünschte‚ sondern‚ weil man mit Profitabsicht auf seine Verführbarkeit spekulierte. Die nachträgliche Interpretation als "eigener Stil"‚ etwa bei einer Marke‚ ist nichts als eine dürftig bemäntelte Unterwerfungsgeste‚ also das Gegenteil von Selbstbestimmung.
Nicht anderes ist es mit der Gleichstellung. Sie ist die Forderung nach einem Anteil. Aber Anteil woran? Eben Anteil an den quantifizierbaren Dingen‚ wo der einzige Maßstab die Zahl ist‚ können nur zählbare Dinge "gerecht" geteilt werden. Wer etwas anderes will‚ als das‚ was alle wollen‚ bekommt logischerweise nichts. Also teilen sich alle den zählbaren Tand‚ und nehmen im Namen der Gerechtigkeit noch Opfer auf sich‚ um dem kapitalistischen System die Verteilung zu erleichern.
Die Tolerenz darf in dieser Büchse der Pandora nicht fehlen. Der Autor verweist auf die Historie‚ sie wurde erfunden‚ um das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen im Deutschen Reich zu ermöglichen‚ bezog sich also auf Streitereien‚ die aus heutiger Sicht als ziemlich unbedeutend ausnehmen. Heute soll die Toleranz weltweit gelten‚ ausgenommen für immer gerade das‚ was die USA als nicht tolerierbar‚ weil selber intolerant‚ festlegen. Während alles relativiert wird‚ ist der Richter in diesem Spiel niemals relativ‚ sondern immer absolut die US-Administration. Ein guter Christ im Sinne dieser Verfaßheit ist einer‚ der – wie inzwischen die meisten in Europa – seine eigene Religion nicht für besser und wahrer hält als eine beliebige andere. Jesus sagt dazu: "Wenn ich doch heiß oder kalt wäret – aber ihr seid lau" und sollt deshalb "ausgespien" werden. Also auf Christus kann sich solch ein "guter Christ" nicht gerade berufen. Wer in Glaubensaussagen tolerant ist‚ hat keinen Glauben. Aber so soll es sein‚ der Markt duldet keine Götter neben sich.
Für Vielfalt – das klingt doch gut? Schon die Romantiker beklagten‚ daß die Welt immer eintöniger wird. Karl Marx stellt im Manifest die‚ aus seiner Sicht‚ geschichtlich notwendigen Zerstörungen der Industrialisierung eindrucksvoll vor. Nun da unsere Produktivität uns vom Hunger und den drängendsten Lebensproblemen befreit hat‚ wolllen wir uns der Vielfalt widmen‚ Tierarten vor dem Aussterben bewahren‚ neue Wege in der Kunst gehen‚ die Welt bereisen und aus unterschiedlichsten Erfahrungen lernen. So weit‚ so gut. Aber Vielfalt pur‚ ohne Bezug‚ etwa auf die Schöpfung‚ ohne Sinn für Kulturhöhe und bleibenden Wert‚ ist auch wieder nur eine Anbetung der großen Zahl. Ein kleines Bespiel: Ein bedeutendes Geschäftsfeld im Internet sind Foren‚ die mit dem Spruch werben: "Millionen Frauen warten auf dich." Hier geben Singles mit kurzfristigen und auch längerfristigen Absichten ihre Daten und Wünsche ein‚ nach einer Vorauswahl des Rechners kommt man im Chat zusammen und hat auch Erfolg‚ wenn man sich strikt an die Vorgabe hält. Einen besonderen Tic und im übrigen völlig stromlinienförmig. Wenn eines von beidem fehlt‚ hat man beim Dorftanz mehr Chancen als bei den Millionen.
Das Vielfalt-Gebot ist wie all diese "Werte" eine Mogelpackung. Vielfalt da‚ wo Vielfalt‚ herrscht‚ also bei der industriellen Massenproduktion. Aber bitte kein Einfältigkeiten wie Treue‚ Tradition‚ Verwurzeltsein. Die Leute mit den vielfältigen Launen sind alle ziemlich eintönig.
Die erbarmunglose Analyse des öffentlichen und leider nicht nur öffentlichen Sprechens in unserer Zeit gelingt Böckelmann in niederschmetternde Weise. Auch wer niemals links war‚ wird dem Autor nach der Lektüre gerne glauben‚ daß dies nicht die Linken gewollt oder zu verantworten haben. Sehr erfreulich‚ daß auf den letzten Seiten des Buches ein starker Hoffnungsstrahl aufleuchtet. Da heißt es: "Verweigern wir die Beatmung der röchelnden Weltoffenheit."
Röcheln? – fragt sich der Leser verwundert – zeigte sich nicht alles so perfide intakt und allumfassend auf den vorigen Seiten? Eben darum. Wenn etwas perfekt ist‚ ist es schon halb vergangen‚ lehrt die Grammatik. Der Motor der Moderne ist die Ungeduld: das ganze Glück – sofort! Die große Lust – aber ein bißchen plötzlich‚ ich habe Rechtsanspruch! Geduld ist die Tugend‚ welche die Gespenster bannt‚ denn jede Geisterstunde geht vorbei. Und wenn auch der Hahn noch nicht kräht‚ so sind doch die Vorzeichen im Jahr sechs der Finanzkrise unübersehbar. Viele Menschen sind dabei‚ einen Kinderglauben abzuschütteln‚ sei es nun bei der Datensicherheit im Weltnetz oder bei den so großartigen erneuerbaren Energien. Wenn Karriereplanung ohnehin keinen Zweck mehr hat‚ lohnt es sich nicht mehr‚ die eigene Zuneigung zu opfern. Und daß der weltweite Export der Demokratie – mit Flugzeugträgern‚ Drohnen und Heroinplantagen – die Aufgabe jedes anständigen Menschen sei‚ wird auch immer schwerer zu vermitteln. Also beginnen wir‚ das Unsere wiederzuentdecken‚ und üben wir "unbelehrbare Treue".

Böckelmann‚ Frank: Jargon der Weltoffenheit. Was sind unsere Werte noch wert? 2013. 136 S. ISBN 978-3-93780-196-4 Manuscriptum Kt. 9‚80 €

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