Die Linde
(Dieter Wolf)

Tilia cordata‚ die Winterlinde‚ soll bis 1000 oder sogar 1900 Jahre alt werden können. Die Linde wird auch »Fettbaum« genannt‚ d. h. nach Ablauf der Vegetationsperiode wird die Reservestärke in fettes Öl umgewandelt‚ im Frühjahr erfolgt die Rückwandlung in Kohlenhydrate. Das lateinische Wort Tilia heißt »Linde« und cordata bedeutet »herzförmig« auf Grund der Form der Blätter. Alles an der Linde ist lind‚ das bedeutet biegsam‚ weich und beweglich. Lindenblütentee ist wohlschmeckend und wird gegen Erkältungskrankheiten verwendet. Lindenblütenhonig gilt als besonders wertvoll‚ nicht zu verwechseln mit »Lindenhonig«‚ den die Honigbienen aus den Ausscheidungen der Blattläuse auf den Blattoberseiten erzeugen (Honigtau). Das aus den Blüten gewonnene ätherische Öl soll an Feinheit alle anderen Parfümöle übertreffen. Das weiche Holz wird für Schnitzereien genutzt. Im Mittelalter war Lindenholz »Lignum sanctum«‚ heiliges Holz. Viele berühmte Heilige sind aus ihm geschnitzt. Lindenkohle war für Schießpulver begehrt. Lindenbast benutzte man früher zum Flechten von Matten‚ Schuhen‚ Kleidungsstücken usw. Er wurde schon in den Pfahlbauten der Steinzeit benutzt. Auch heute verwendet man ihn als Gärtnerbast und zum »Basteln«. Aus den gerösteten Blüten und Früchten stellte man Schokolade her. Wie aus dem Ahorn gewann man aus der Linde Zucker.
Linden galten als Sinnbild der Gerechtigkeit. Unter alten Linden wurde Gericht abgehalten‚ aber oft auch gefeiert. Bezüglich der Rechtsstreitigkeiten hieß es‚ dass unter einer Linde die reine Wahrheit ans Licht kommt‚ dass ihr Duft die Richter milde stimmt und streitende Parteien versöhnlich. Und beim Feiern führte der Blütenduft zu einer angenehmen Entspannung oder sogar Zugeneigtheit. Lattenzäune aus Lindenholz hießen früher »Landen«‚ daher kommt unser Wort »Geländer«. An geschichtlich bedeutsamen Orten stehen oft Linden oder Lindenalleen‚ die zu diesem Ort führen (»Unter den Linden«). Linden sind aber auch Meditationsbäume‚ oder wie Schubert schrieb: »Am Brunnen vor dem Tore‚ da steht ein Lindenbaum‚ ich träumt’ in seinem Schatten so manchen süßen Traum.« Sie galt als Symbol der Liebe‚ der Freundschaft und sogar der ehelichen Treue über den Tod hinaus Auch die Kelten sprachen im Schatten der Linde Recht‚ denn dies war ein Ort der Wahrheit‚ während ihre duftenden Blüten dem Ort der Gnade entgegen wuchsen. Unter einer Linde hat Siegfried den Lindwurm Fafnir getötet. Als er im Drachenblut badete‚ um Unsterblichkeit zu gewinnen‚ ließ die Linde ein Blatt zwischen seine Schulterblätter fallen. Dadurch blieb sein Herz verletzlich. Hagen‚ sein Widersacher‚ tötete ihn unter einer Linde. Überliefert ist der Sinnspruch im Angesicht der Linde: Das Lebensleid ist der Preis für die Lebensfreude. Die Linde hat alle Herrschaftswechsel‚ von den Kelten zu den Römern‚ von den Römern zum Christentum‚ vom Feudalismus bis zur Demokratie überstanden. Und man wird sie auch in dem wieder finden‚ was kommen wird.

Zum Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift