Nur für den Dienstgebrauch
(Dieter Wolf)

Ich war gedankenlos‚ als ich mir das Buch von Helmut Roewer »Nur für den Dienstgebrauch« in die Hand drücken ließ. Alle anderen hatten es abgelehnt‚ eine Rezension zu schreiben‚ ich hatte ohne nachzudenken zugesagt‚ als folgte ich einem Wink aus meinem Unterbewußtsein. Wer einen Verriß über das Buch eines ehemaligen Präsidenten der Verfassungsschutzbehörde in Thüringen schreibt wird wenig später tot in der Badewanne aufgefunden werden‚ er ertrinkt nicht‚ es wird sich um einen banalen Herzstillstand handeln. Wichtig bei einer Rezension ist‚ man sollte das Buch‚ bevor man die Rezension schreibt‚ lesen. Nicht alle Rezensenten halten sich an solche altmodischen Regeln. Aber in diesem Fall ist die Angelegenheit besonders brisant. Was ist‚ wenn sich herausstellt‚ das Buch ist nicht nur gut geschrieben und lesenswert‚ sondern kann auch dazu dienen‚ deutlich den eigenen Horizont zu erweitern? Die Todesgewißheit verstärkt sich‚ nur der Tod wird wesentlich grausamer eintreten‚ noch schlimmer als bei Uwe Barschel. Ein Kaltgestellter‚ der sich durch sein Insiderwissen behaupten kann und publizistisches Lob erfährt‚ wird alle seine Feinde erneut auf den Plan rufen‚ die dazu aufrufen werden‚ den Rezensenten zu beseitigen‚ wenigstens diese Maßnahme erscheint ihnen notwendig‚ wenn sie sonst schon nichts können.
Was die allgemeine Thematik anbelangt‚ so habe ich nur drei mehr oder weniger umfangreiche Quellentexte mit großer Aufmerksamkeit gelesen: Graham Greens Buch »Unser Mann in Havanna« (1958) ist eine Spionageparodie. »Ich brauchte das Geld«‚ war schon immer ein beliebter Spruch. Mr. Wormold’s Tochter Molly lebt auf großem Fuß. Zudem muß sie vor Hauptmann Segura gerettet werden. Als Wormold zum Agenten angeworben wird‚ rät ihm sein Freund Hasselbacher: »Nehmen Sie ihr Geld‚ aber geben Sie ihnen nichts dafür … lügen Sie einfach.« Wormold beginnt seine Informanten zu erfinden. Er beschreibt gefährliche technische Anlagen‚ die bislang völlig geheim waren‚ verschlüsselt Telegramme‚ übermittelt Mikrofotos. Irgendwann dämmert es seinen Aufraggebern. Die geheime angebliche Hochtechnologieanlage ist nichts weiter als ein Bild vom Innern eines gewöhnlichen Staubsaugers. Die zweite Quelle ist das Buch von Harry Mathews »Mein Leben als CIA«. Mathews gründet ein Reisebüro‚ hält Vorträge über Reisen nach Rußland und verkauft Schrottelemente aus der Werkstatt des Künstlers Jean Tinguely als Teile eines russischen Überschallflugzeugs. Das umfangreichste literarische Studium absolvierte ich beim Lesen meiner Stasi-Akte. Langweilige Aufzeichnungen von Telefonaten hatte jemand abtippen müssen‚ manche Fremdworte waren entstellt wiedergegeben. Postkarten und Briefe waren abgeschrieben‚ Berichte von Gesprächen aufgezeichnet worden – von mir völlig unbekannten Menschen. Das Leben von Agenten konnte schon trostlos sein und der Gewinn aus ihrer Arbeit äußerst spärlich.
Inwiefern läßt sich dieses Genre überhaupt irgendwie sachlich beurteilen? Mit literaturwissenschaftlichen Mitteln vielleicht? Im »Rätsel der Sandbank« von Erskine Childers aus dem Jahre 1903 wird eine Invasion Großbritanniens durch ostfriesische Fischerboote verhindert. In dem Buch von Helmut Roewer »Nur für den Dienstgebrauch« aus dem Jahre 2012 ist alles anders. Weder sind aus Sicht des Autors die russischen Agenten‚ die Altlasten der DDR‚ die machtgierigen Politwestimporte‚ noch die kriminellen Machenschaften der Union zu stoppen. Wir leben in einer gänzlich anderen Zeit. Sehen wir es gelassen‚ die Grundformel aller spy stories ist die eines Zweikampfes von Held und Gegenspieler samt ihren Helfern. Umberto Eco hat dies seinerzeit demonstriert‚ als er Vladimir Propps Schema der Märchenanalyse in variierter Form auf Jan Flemings James-Bond-Romane anwandte. Die strukturelle Entgegensetzung von Gut und Böse‚ Schwarz und Weiß‚ teilen der Spionageroman und das Tagebuch des Agenten mit dem Märchen und dem Abenteuerroman. Joseph Conrad war einer der ersten Autoren‚ der in seinem Roman »Der Geheimagent« (1907) die tragischen Aspekte des Geheimdienstwesens thematisierte. Auch bei Helmut Roewer stehen die persönlichen Ambivalenzen im Nachrichtendienst‚ die bürokratisch-politischen Widersprüche‚ Absurditäten‚ Fehlschläge und Erfolge im Fokus der Überlegungen. Der Autor ist von einer tiefen Abneigung gegenüber der thüringischen Küche geprägt‚ was ihm verziehen sei. Jedes Bundesland is(s)t eben anders. Ich würde auch nicht jeden Tag Pfälzer Saumagen essen wollen‚ obgleich ich die Pfalz durchaus mag mit ihren vorzüglichen Weinen und ihrer wunderschönen Landschaft. Schwäbische Spätzle würde ich auch nicht jeden Tag essen wollen. Mit der Thüringer Bratwurst und vielem anderen muß man eben aufgewachsen sein. Roewer bekennt sich zu folgendem: »Ich lernte‚ daß Wahrheitsfindung und parteipolitisches Aufklärungsinteresse oft nicht zur Deckung zu bringen sind.« [S. 15]. Dem läßt sich zustimmen. Hierzu paßt auch die Passage‚ als ein Zeuge öffentlich vernommen wird‚ der zudem ein ehemaliger Mitarbeiter des Amtes war. »Er will mich nachts bei Kerzenschein mit sechs oder sieben Frauen nebst Käse und Rotwein angetroffen haben‚ im Übrigen barfuß und Fahrrad fahrend.« [S. 16].
Dies wird die Phantasie der Abgeordneten deutlich beflügelt haben. Ein James Bond hätte‚ abgesehen von den Tatsachen‚ einen solchen Vorwurf nicht nur bestätigt‚ sondern in den wildesten Farben ausgeschmückt. Man hätte auch mit den Worten Berlusconis antworten können: »Wäre es denn euch lieber‚ ich wäre…?« An anderer Stelle schreibt Roewer: »Überspitzt formuliert regiert über Jahre hinweg eine Clique rheinischer Katholiken eine geduldige Schafsherde von Gottlosen.« [S. 117]. Aus dieser Perspektive wird manches verständlicher‚ selbst die Wurzeln stalinistischer Schauprozesse. Insofern resümiert er äußerst treffsicher: »Oft ist es so‚ dass die Dinge aufgrund von Geschmacksfragen entschieden werden‚ selbst wenn es sich um Angelegenheiten des Rechts handelt.« [S. 48].
Nebenbei sei angemerkt‚ mitunter unterlaufen Helmut Roewer auch kleinere Fehler‚ so schreibt er: »…sechs Stahlrohrstühle der Marke VEB Sitzwohl‚ Mittelweida‚ mit unterschiedlich verschossenem rotem Chemiefasergespinst stehen auch etwas wahllos im Zimmer.« [S. 20]. Natürlich existiert keine Stadt mit dem Namen Mittelweida. Mittelweida ist eine geheimdienstliche Erfindung.
Irrtümer in Spionageromanen sind häufig. In Frederick Forsyths Buch »Mc Creadys Doppelspiel«‚ welches 1983 im geteilten Deutschland spielt‚ muß der Chefspion selbst die Grenze überwinden‚ um persönlich in Weimar von einem sowjetischen Stabsoffizier wichtige Informationen zu erlangen. Ein übergelaufenes Mitglied der AGG (Arbeitsgruppe Grenze) der Stasi hatte vor Ellrich eine Lücke im Minenfeld gelassen‚ durch die er später selber flüchten wollte. Ihm gelang aber bei einer Gelegenheit früher die Flucht und er bekam Kontakt zu Mc Cready. Er brachte ihn zu der Schleusungsstelle und über die Grenze. Drüben war dann Mc Cready allein auf Kompaß und Wegbeschreibung angewiesen. Orientierungshilfe wurde der Turm der Johanniskirche‚ um die Stadt Ellrich zu umgehen und die Landstraße nach Nordhausen zu finden. Diese Orientierungshilfe‚ die er absolut gebraucht hätte‚ war 1983 nicht vorhanden‚ der Turm war längst abgerissen.
Auffällig sind die Druckfehler im Buch von Roewer‚ als habe man auf diese Wert gelegt: S. 20 wie bereits erwähnt »Mittelweida« / S. 41 »im meinen ersten Wochen« / S. 73 »den oberen Lagerzaum im Rücken« / S. 74 »... ... .... .... ... ... ...... ......« / S. 143 »in die letzten Jahren« / S. 178 »spiesten soeben Ministerpräsident« / S. 208 »nazibekämpfungsresidenten Thüringer Behörden« / S. 213 »daß der normale Nachrichtendienstler Freunde an Erkenntnisgewinn hat« / S. 235 »andere Schweibweisen« / S. 252 »Es sucht nur noch nach dem Entlassungsgrund« / S. 269 »die bislang die letzte Gelegenheit«. Sammelt man alle Druckfehler zusammen und kombiniert die Buchstaben‚ ergibt sich folgender Befehl: »Eliminieren die drei!« Da haben wir es! Man kann froh sein‚ daß es nicht mehr sind! Freie Interpretation von Zahlen‚ Buchstaben und Sachverhalten gehören grundsätzlich zum Geschäft‚ auf allen Seiten.
Ab und an gibt es ein paar Seitenhiebe: »In meinem Erzählplan kommen eine Menge Toter vor‚ ohne die sich das Handeln in den Thüringer Jahren nicht erklären läßt…« [S. 62]. Einer der begabtesten Nachrichtenfälscher aller Zeiten war aus der Sicht Helmut Roewers der rasende Reporter Egon Erwin Kisch. Rein vom Gefühl her will man ihm augenblicklich recht geben. Wer war Kisch? Kisch wurde am 29. April 1885 in Prag geboren‚ er war der Sohn eines jüdischen Tuchhändlers. Er schrieb unter anderem Bücher mit dem Titel »Vom Blütenzweig der Jugend«‚ »Der freche Franz und andere Geschichten«‚ »Aus Prager Gassen und Nächten«‚ »Abenteuer in Prag«‚ »Die drei Kühe«‚ »Der Mädchenhirt«.
Letzteres Buch erzählt aus dem Milieu der Prager Dirnen und Zuhälter. Kisch war häufig Gast in der Gaststätte »Zum Weißen Hasen« in Prag. Damit wäre fast alles gesagt‚ gäbe es nicht die Spionageaffäre um Oberst Redl. [S. 65]. Die letzte Reportage‚ die Kisch schrieb‚ trug übrigens den Titel »Karl Marx in Karlsbad«. Man sollte sich also einmal die Preisträgerliste des Egon-Erwin-Kisch-Preises genauer anschauen‚ der von Henri Nannen ins Leben gerufen wurde.
Was die Wende anbelangt‚ so schreibt Roewer: »Man kann einer Generation von Erwachsenen nicht erläutern‚ dass sie jahrzehntelang unkritisch mit faustdicken Lügen gelebt hat. Dies ist für kaum einen akzeptabel‚ weil es die eigene Erkenntnisfähigkeit und die eigene Moral fundamental in Frage stellt.« [S. 69]. In der Geschichte gab es immer die Masse‚ die Ideologie‚ aber auch Häretiker. Aus der Sicht von Helmut Roewer‚ möglicherweise ist dies auch die offizielle Position des Amtes für Verfassungsschutz‚ wurde Meister Eckhart 1326 zum Tode verurteilt und hingerichtet. [S. 85]. Dies ist mir neu. Bislang war mir nur bekannt‚ der aus Hochheim oder Tambach stammende Dominikaner wurde zwar denunziert und angeklagt‚ und der in Köln eingeleitete Inquisitionsprozeß wurde am päpstlichen Hof in Avignon neu aufgerollt und zu Ende geführt. Eckhart‚ so steht in den Kirchengeschichtsbüchern‚ soll aber vor dem Abschluß des Verfahrens gestorben sein. Über welche Akten verfügt das Amt‚ die bislang der allgemeinen Forschung möglicherweise entzogen worden sind? Sollte man diese Akten der Allgemeinheit nicht zugänglich machen? Die Verfassungsschutzbehörden sind Nachrichtendienste‚ ihre Waffe ist die Information‚ einschließlich der Desinformation. Zurück zur bislang offiziellen Version: Nach Eckharts Tod wurde das Verfahren fortgesetzt. Es endete mit der Verurteilung der 28 Sätze‚ die teils häretisch‚ teils als häresieverdächtig eingestuft wurden. Hätte Roewer recht‚ so würde die Inquisition wie die »Blöd-Zeitung« gearbeitet haben: Erst hinrichten und danach den Fall genauer untersuchen.
Es gibt auch manches Lob im Buch‚ beispielsweise gegenüber dem hochgeschätzten Schriftsteller und Lyriker Joachim Werneburg: »Mein Mitarbeiter Joachim Werneburg setzte meine Weisung genial um‚ daß die Leser unserer periodischen Meldungen durch eine Mischung von Information und Unterhaltung zum Lesen angeregt werden sollen.« [S. 92]. Immerhin‚ Goethe war auch Geheimrat. Also‚ es gab auch Positives! Worin bestand nun im Kern das Negative? »Es ist eine Geschichte von Gewinnsucht‚ Niedertracht und Missgunst‚ aber auch eine Geschichte von Bigotterie und christlicher Doppelmoral.« [S. 98]. Mit Theodor Fontane und Günter Grass gesagt‚ das ist ein weites Feld. »Als ich es zu beackern beginne‚ führt es mich zwangsläufig in Auseinandersetzungen mit korrupten politischen Strukturen. Sie durchziehen wie Metastasen eines Krebsgeschwürs Politik‚ Verwaltung‚ Justiz und den mit öffentlichen Mitteln geförderten halböffentlichen Bereich.« [S. 99]. Und weiter heißt es: »Solche auf Dauer angelegten Herrschaftsverhältnisse ohne echte Kontrolle führen selten zu etwas Gutem.« [S. 99]. Ohne Frage‚ wer in seinem Dienstzimmer über viertausend Bücher hortet‚ darunter nicht wenige aus dem Bereich der Belletristik‚ besonders als Leiter eines so wichtigen Amtes‚ erweckt Mißtrauen. Aber muß man sich dann auch noch äußern über all das‚ was man gelesen hat? Vor allem gegenüber jenen‚ die fast nie Bücher lesen! Dies kann nicht gut gehen. Roewer schreibt: »Man glaubte im MfS‚ die Blockpartei CDU genau zu kennen. Das war ein gravierender Irrtum‚ denn eines übersah man hinsichtlich der Unionisten: Sie funktionierten nach einem einfachen Prinzip. Die Fahne der organisierten Christenheit verhielt sich nach physikalischen Gesetzen: Sie wehte mit dem Wind. Als dieser im zu Ende gehenden Jahr 1989 heftig umschlug […] wendeten sich mit einem Schlag die Fahnen.« [S. 104]. Über dieses Grundprinzip schrieb schon der Kirchenvater Augustin. Nach dem Ende des Euro wird es ähnlich sein. Ganz logisch schlußfolgerte Roewer: »Das MfS war Büttel eines Systems und nicht dessen Befehlsgeber‚ es war nichts weiter als ‚Schild und Schwert der Partei’.« Die Fokussierung auf das MfS zur Unterscheidung von Gut und Böse ist weniger als die halbe Miete. Sie läßt die vielen beiseite‚ die das Sagen hatten und die noch viel größere Zahl der anderen‚ die‚ aus welchem Grund auch immer‚ das System förderten und voller Überzeugung bei ihren Mitmenschen Schaden stifteten – und das alles‚ ohne dem verhaßten MfS-Apparat anzugehören. Nun gut‚ die Richtung des normativ ontologischen Denkens sieht anders aus. »Der Sozialismus ist unverbrüchlich und ihm gehört die Zukunft.« Oder: »Der Euro ist unverbrüchlich und ihm gehört die Zukunft.« Im Grunde mußten viele aus der Uckermark und woanders her ja nie umlernen.
Roewer schreibt: »Die Sowjetunion [sprich: Es-Uh] bestellte‚ die Auftragsbücher waren voll‚ es wurde produziert‚ doch bezahlt wurde nie oder doch fast nie…« Übersetzen wir dies in die Gegenwart: Die EU bestellte‚ die Auftragsbücher waren voll‚ es wurde produziert‚ doch bezahlt wurde nie oder doch fast nie… Armer Exportweltmeister Deutschland‚ du hast es nicht einfach!
Roewer wehrt sich gegen den Mißbrauch seines Amtes zu Wahlkampfzwecken; wie man inzwischen weiß‚ vergebens. [S.43]. Ein Dossier des Amtes über PDS-Abgeordnete gelangte versehentlich per Fax zu der Grün-alternativen Fraktion und nicht zur Union. Die Presse berichtete. Dies ist vergleichsweise harmlos‚ verglichen mit der erprobten »Strategie der Spannung« der Geheimdienste‚ der Terroranschläge zur Leitung der Bevölkerung.
Zur NSU-Debatte schreibt Roewer: »Die mutmaßlichen Gangster aus Jena handelten auch in anderer Weise gänzlich atypisch‚ wenn man sie mit den Terrorgruppen der letzten 150 Jahre vergleicht. Jenen kam es darauf an‚ mit ihren Terrortaten Signale zu setzen – der Schrecken war die Botschaft‚ sie wurde öffentlich gemacht. Die Leute aus Jena hingegen taten das Gegenteil. Sie hielten Zielrichtung und Zusammenhänge ihres Tuns vielmehr strikt geheim. Den Taten fehlte also das Plakative‚ das den Kern des politischen Terrors ausmacht.« [S. 11]. Was man Roewer vorwarf‚ läßt sich im Internet nachlesen:
Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung von V-Männern‚ die Gründung von Scheinfirmen durch den Verfassungsschutz u. a. mehr. Zudem habe er sich einmal als Ludendorf und einmal als Rathenau verkleidet. Als Rathenau stimmt‚ als Ludendorf nicht‚ er war als Max Hoffmann verkleidet. Im Panzerschrank seines Büros wurden im Jahre 2000 Geld und Quittungen in Höhe von 30000 Euro gefunden‚ unterschrieben von »Günther«‚ einem V-Mann‚ den nur Helmut Roewer kannte. Dies ist insofern interessant‚ als der Euro erst 2002 eingeführt wurde. Schlamperei oder Egon Erwin Kisch war wieder am Werk. Später wird dies revidiert und man schreibt von 40000 DM. Dies heißt‚ solcherlei Berichte sind für eine Einschätzung nahezu wertlos.
Was auffällt‚ man ist sich einig‚ ihn niederzumachen. Leyendecker: »Sein Name steht für das Chaos«‚ Süddeutsche Zeitung vom 17.11.2011. M. Neller & M. Bewarder: »Ein Exzentriker verteidigt Spitzelpannen seiner Zeit«‚ Die Welt vom 16.11.2011. Andreas Förster: »Der Ex-Geheimdienstler Helmut Roewer erzählt. Der Feind ist überall«‚ Berliner Zeitung vom 13.08.2008. Harald Lachmann: »Helmut Roewers Doppelleben: Der Verfassungsschutz als Tollhaus«‚ Stuttgarter Zeitung vom 16.11.2011.
Manche seiner Passagen in seinem Internetblog klingen zweifellos kryptisch: »Es ist und bleibt Aufgabe der demokratischen Politik‚ das Volk im Auge zu behalten‚ mißlingt das‚ pflegt es‚ das undankbare Volk‚ die Quittung bei Wahlen zu erteilen.« Ist dies aber ein ausreichender Grund‚ in der Bundesrepublik fast das gesamte Volk heimlich mit Peilsendern zu versehen und es technisch und durch Observation zu überwachen? Für seine ehemalige Behörde gilt: Ein Leben unter Reißwölfen ist nicht einfach. Unmittelbar nach dem Ableben von Bönhard und Mundlos wurden zahlreiche Akten in ganz Deutschland vernichtet. Helmut Roewer ist unter der Referentenliste des Veldensteiner Kreises zu finden. Der Veldensteiner Kreis zur Erforschung von Extremismus und Demokratie ist eine dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) nahe stehende Diskussionsrunde von Zeithistorikern‚ Politik- und Sozialwissenschaftlern‚ die sich der Erforschung von Extremismus und Demokratie in Geschichte und Gegenwart widmen. Zum Thema Nachrichtendienste hat Helmut Roewer mehrere Bücher verfaßt.
Worin begründet sich nun tatsächlich das Scheitern von Helmut Roewer? Antwort: Er hat sich letztendlich einem Rest ethischer Grundsätze verpflichtet gesehen‚ die von seiner Umgebung nicht mehr geteilt wurden. Bezeichnend ist der von ihm beschriebene Entwicklungsprozeß: »Noch ist meine fröhliche Übereinstimmung mit dem‚ was ich als Rechtsstaat kennen gelernt und verinnerlicht habe‚ einigermaßen intakt. Es ist der Glaube‚ daß unser Land über weitgehend vernünftige Regularien verfügt‚ deren Einhaltung sich notfalls auch erzwingen läßt. Ich lerne bald‚ dass dies ein Irrglaube ist‚ wenn man es mit einer politischen Kaste zu tun kriegt‚ die sich selbst von diesem Regelwerk freigestellt hat‚ weil sie den Staat als Selbstbedienungsladen nutzt.« [S. 119]. Und weiter schreibt er: »Ich gestehe gern ein‚ dass es nicht an Versuchen gemangelt hat‚ mich in diesem Sumpf fest zu verankern. Ich war längst nicht immer clever genug‚ um zu bemerken‚ wie der Hase lief…« [S. 122]. Dies klingt zumindest wie ein glaubhaftes Bekenntnis. Es geht um die Gemeinschaft der Lebenden‚ der Toten und der Zukünftigen als Widerlager gegen die Etablierung mafiöser Strukturen. Während Platon von dem Hintergrund des absehbaren Polis-Verfalls philosophierte‚ sieht sich Helmut Roewer nicht nur mit den grundstürzenden Folgen der Französischen Revolution konfrontiert‚ sondern ebenso mit denen der Postdemokratie.
Allgemein läßt sich sagen: Die utopischen Energien sind am Versiegen. Die Gegensätze der Parteien haben sich abgeschliffen. Die freiheitliche Grundordnung umfaßt auch radikale Ränder (rechts und links)‚ die vielleicht nicht wünschenswert‚ aber doch zulässig sind. Das Zusammenrücken in der politischen Mitte und die Bekämpfung der anderen mit geheimdienstlichen Mitteln bietet aber keine dauerhafte Lösung. Die konsensorientierten Politikmodelle sind insbesondere dafür verantwortlich‚ daß sich diffuse Stimmungen ausbreiten‚ die auf den Begriff »Postdemokratie« verweisen im Sinne von Colin Crouch. Für einen verantwortungsvollen Posten in einer sich herausbildenden Danistakratie‚ einer Herrschaft des Wuchers‚ war Roewer nicht geeignet. Seine Auffassungen von Staat und Gesellschaft waren seltsamerweise zu konservativ. Er geriet zwischen die Fronten eines »antagonistischen« und eines »agonistischen« Demokratiemodells. Vielleicht hört er manchmal im Traum die Stimme seines früheren Mitarbeiters Gerhard Hauer: »Die Sache hat sich dem intelligenten Zugriff bereits entzogen.« Ein immer größer werdender Teil der Wahlberechtigten besitzt keine Repräsentation in den Parlamenten. Nicht nur Recht und Gesetz sind zunehmend entkoppelt‚ auch das Problem der hemmungslosen Bereicherung einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit wird immer offensichtlicher und unerträglicher.
Roewer schreibt: »Ich habe sie beim Heucheln ertappt und beim Geschäftemachen.« [S. 266]. Und sein letzter Satz lautet: »Ich bin sicher: Die Aufklärung‚ sie ist gescheitert.« [S. 270]. Freilich‚ kann es etwas noch Bittereres geben für einen Geheimdienstmann als dies?

Roewer‚ Helmut: Nur für den Dienstgebrauch. Als Verfassungsschutzchef im Osten Deutschlands. 2012. 280 S. ISBN 978-3-902732-09-5. Ares Gb. 24‚90 €

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