Vogelzug
(Dieter Wolf)

Das junge Paar mir gegenüber im Zugabteil unterhielt sich schreiend. »Liebst du mich?« schrie sie mit wirrem Blick und rotem Kopf. Die Antwort fiel heikel aus: »Denkst du vielleicht‚ ich mache Liegestütze?« »Und was ist mit Irina‚ ist sie auch deine Freundin?« brüllte sie. »Ich helfe ihr nur schwanger zu werden.« Die bildhübsche Frau mit der tief ausgeschnittenen gelben Bluse und dem sehr kurzen Rock stand auf‚ öffnete ihren Koffer und holte einen Apfel und einen Holzkleiderbügel heraus. Mir war klar‚ sie würde den Apfel essen und dann gäbe es Dresche. Er oder sie‚ fragte ich mich‚ wer würde beginnen? Unterschiedlichere Welten konnten kaum aufeinandertreffen. Ich war auf dem Weg nach Prag zu einem Vortrag über »Die Transzendenz des Numinosen im Hinblick auf Hegels pantokratisches Subjektivitätskonzept unter der Voraussetzung der Existenz von Engeln außerhalb von Ansiedlungen in Nordböhmen«. Irgendwie ahnte ich schon immer‚ die Natur versteht ihre Sache besser als wir. Aber man muß ja nicht alles glauben‚ was stimmt. So nahm ich all meinen Mut zusammen‚ lächelte dieses seltsame apfelessende Wesen an‚ beugte mich vor und fragte: »Hej‚ was geht ab?« »Ich habe Ihnen gerade akustisch nicht zugehört«‚ antwortete sie. Also versuchte ich es noch einmal. »Achtzehnhundertöffenböffszig schrieb Immanuel Kant in Königsberg seine berühmte Abhandlung über den kategorischen Imperativ: Handle stets so…« Weiter kam ich nicht‚ denn der Kerl schräg gegenüber unterbrach mich: »Sie haben wohl einen feuchten Wirsing?« Er stand auf‚ öffnete den Koffer seiner Freundin und schüttete den Inhalt auf den Boden des Abteils mit dem Kommentar: »Urlaub fällt aus‚ wegen is’ nicht.« Was da auf dem Boden lag war eine impressionistische Farbenlehre‚ es waren emotionale Zeichen wie die Silben der Poesie‚ wie die Noten der Musik. Kunst ist Harmonie. Harmonie ist Analogie der Gegensätze. Etwas in der Empfindung von Farben und Linien zu erleben kann nicht verkehrt sein. Was da lag war wie Schnee‚ in dem sich das Blau des Himmels und das Grün und Gelb des Morgens spiegelte. Da öffnete der Schaffner die Abteiltür: »Was ’n hier los? Ich glaub mein Holzbein brennt!« Ich gab ihm einen Wink mit dem ganzen Zaun und erwiderte‚ um ihn ein wenig abzulenken: »Captain‚ wir verlieren an Höhe!« Die auf dem Boden liegenden Sachen musternd wandte er sich an die junge Schönheit: »Passe ma acht! Wenn bei dir die Höschen klemmen‚ dann mußte die nicht hier auf ’n Boden knallen!« Irgendwie wirkte sie niedergeschlagen und flüsterte: »Ich glaub‚ ich krieg ’nen Föhn!« Der Schaffner‚ vielleicht Anfang sechzig‚ hatte auffällig vorstehende Zähne und war gewiß einiges gewöhnt. Der fiese Kerl mir gegenüber entgegnete: »Schnauze‚ Fury!« Ja‚ so ist das Leben. Das Leben ist kein Ponyhof‚ aber geritten wird trotzdem‚ es ist auch kein Pornofilm‚ aber lassen wir das. Das Leben ist irgendwie anders. Das Leben ist eine epochale Erlebnislage‚ manchmal liegt man richtig und manchmal liegt man falsch. Die Dinge sind uneinheitlich. Wir sehen‚ was wir suchen. Manches‚ was wir sehen‚ verstehen wir nicht. Und die Sehnsucht versteht sich zu tarnen. Timing ist keine Stadt in China‚ aber genau darauf kam es nun an. Denn die Welt ist ein Kommen und Gehen. Während du denkst‚ verschimmelt Obst. Also pflücke den Tag‚ carpe diem! Die Zukunftsängste sind groß‚ doch die privaten Erwartungen an das Leben sind größer‚ weil der Glaube an die Technik und Wissenschaft immer noch beliebter ist als die Zukunftsangst. Uns prägt eine verständliche Behäbigkeit‚ die immer das Beste aus allem zu machen versucht. Wo findet man noch lebenstaugliche Utopien? Es sind die alltäglichen Wünsche‚ Träume und Hoffnungen: »Ich lach mir ’nen Ralf‚ es ist mir ein innerer Vorbeimarsch!« Pechiös‚ hoffen wir‚ leben die anderen. Wie verzeitlicht sich die Geneigtheit‚ nicht endlich sein zu wollen wie die anderen? Sie verflüchtigt sich und es bleibt nur der Augenblick der Schönheit. Läßt sich wirklich sagen: Gottlob‚ wir haben uns der Griechen und Römer entledigt samt dem Mittelalter und der Romantik‚ und nunmehr bleibt uns einzig die Wirklichkeit und wir haben keine andere Wahl‚ als so zu sein wie wir sind? Ich sah aus dem Fenster‚ es war August‚ die Sonne schien. Die schrägstehende Sonne überzog die schöne Landschaft aus Feldern‚ Wäldern‚ Wiesen und Bergen mit einem goldenen Schein. Bald würde es Abend werden und die Glocken der alten Dorfkirchen erklingen. Jeder erlebt die Zeit‚ die er hat‚ anders. Jeder lebt so‚ wie er mit seiner Zeit umzugehen weiß. Als der Zug hielt‚ stieg niemand aus und niemand stieg ein. Wir fuhren weiter‚ einem nur scheinbar bekannten Ziel entgegen. Die Veraltungsgeschwindigkeit unserer Hoffnungen steigt. Wenn alles fährt‚ kann man alles fahren lassen‚ auch die Gefährten. So begeben wir uns in Gefahr. Nicht selten bedarf es im Leben eines zweiten Versuchs. Der Apfel war längst gegessen‚ der Schaffner war ratlos davongegangen und so sprach ich sie ein zweites Mal an: »Darf ich mich vorstellen‚ mein Name ist…« Aber da trat der fiese Kerl von gegenüber schon wieder in Aktion: »Noch so ’n Spruch – Kieferbruch!« Schüchtern erwiderte ich: »Sie würden grundsätzlich jeden Raum verschönern beim Verlassen!« Jetzt wurde er richtig wütend: »Das gibt gleich Fratzengeballer‚ du Beipackzettelleser!« Mir war klar‚ mit der Gewohnheit Erlebnisse zu erzeugen ging die Notwendigkeit einher Erlebnisse zu steigern. Doch da kam mir ein Echo zu Hilfe: »Ich heiße Liriope‚ heiß heute draußen‚ was‚ Klimaanlage wäre nicht schlecht!« Endlich konnte ich aufatmen. Die Anspannung wich‚ ich machte es mir bequem. Liriope war eine Nymphe‚ Publius Ovidius Naso hatte einiges über sie geschrieben in seinen Metamorphosen. Zweifellos war die Liriope‚ welche mir gegenüber saß‚ eine Nachfahrin dieser Nymphe. Sie mußte Schlimmes durchgemacht haben. Aber wo alle Gedanken Reisenden gleichen haben wir das Problem des Relativismus. Vielleicht hatte sie ja auch ihren Spaß. Ach ja‚ die Welt des Lebens‚ sie schließt unendliche Interpretationen in sich ein. Das Denken bedenkt sich selbst‚ und in seiner jeweiligen Zeit wird man oft gezwungen‚ sich für die allergrößten Dummheiten zu bedanken‚ wer sich weigert wird eliminiert. Basta‚ kein Eis‚ kein Nachtisch‚ nicht mal Fernsehen. Wer sagt‚ daß alles relativ sei‚ kommt nicht umhin‚ den absoluten Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu beanspruchen und damit in einen Selbstwiderspruch zu geraten. »Ja‚ es ist relativ heiß hier im Zug«‚ antwortete ich‚ »es wäre sehr angenehm‚ irgendwo etwas trinken zu können!« Sie lächelte und sagte: »Es gibt leider keinen Restaurantwagen‚ keine Chance auf ein kühles Bier‚ Anton hat nachgeschaut.« Der Kerl mir gegenüber nickte grimmig‚ er schien mir von der Sorte zu sein‚ die einen ganzen Kasten Bier innerhalb von 15 Minuten austrinken können. Der Name Anton paßte zu ihm. Der Zug hielt‚ und zwei Gleise entfernt von uns wurde ein Bahnhofskiosk sichtbar. Anton stieg sofort aus und lief über die Gleise‚ um Bier zu holen. Er verabschiedete sich mit: »Hollaritti‚ bin gleich wieder da!« Vom Fenster aus sah ich‚ wie er sich zwei Plastiktüten mit Bierflaschen vollpacken ließ. Dann kam auf Gleis 1 ein Gegenzug und Anton war nicht mehr zu sehen. Anton‚ was für ein Name. Anton klang wie eine verrostete Exzenterpresse‚ die sich langsam aus ihrer Verankerung löste und bei Inbetriebnahme unangenehm schepperte. Dieser Typ war ein Schrotthaufen‚ bei dem sich allmählich alle Teile lösten‚ und man stand in Gefahr‚ wenn sie umherflogen‚ von ihnen getroffen zu werden. Auf einmal verstummte alles‚ eine unwirkliche Stille war zu spüren‚ als hätte die Welt auf einmal vergessen zu atmen. Keinen Ton‚ nicht mal Anton. Dann geschah das Unvorhersehbare. Anton stieg in den Zug ein‚ der ihm den Weg zurück versperrte und wollte auf der anderen Seite wieder aussteigen‚ aber die Türen zu unserer Seite hin ließen sich nicht öffnen. Plötzlich setzte sich der Gegenzug in Bewegung. Auch Anton schien innerlich bewegt zu sein. Seine letzte Bewegung sah aus‚ als wollte er Wind um die Ecke schaufeln. »Wo bleibt er denn?« fragte Liriope. »Er fährt zurück‚ er fährt in die Vergangenheit‚ um als Steinzeitmensch wiedergeboren zu werden.« Sie schüttelte den Kopf und fragte: »Als Schweizer Mensch?« »Ja‚ als Schweizer Mensch‚ die sind nämlich steinreich.« Diskotheken ruinieren das Gehör. Hörgeräteakustiker ist ein Beruf mit Zukunft. Irgendwann im Leben entdecken die meisten‚ den falschen Beruf gewählt zu haben und daß Hochzeiten die Ursache für Scheidungen sind. Alles‚ was entsteht‚ ist auch zum Vergehen bestimmt‚ alles ist vorübergehender Natur. Da unterbrach Liriope meinen Gedankengang: »Samsarabim‚ Anton ist weg‚ wir fahren!« »Fahren und fahren lassen«‚ antwortete ich. Es war die Zeit gekommen‚ zum vertraulichen Du überzugehen. »Du mußt dir keine Sorgen machen‚ Liriope‚ das Suchen verführt immer zu langen Reisen!« Ich nahm ihren Koffer und begann die auf dem Abteilboden verstreuten Sachen sorgsam wieder einzupacken. Eines der Höschen gefiel mir ganz besonders‚ es war ein winziges rotes. » Darf ich das behalten‚ Liriope?« »Pfoten weg‚ her damit‚ ’rein in den Koffer!« »Aber es ist doch nur so klein‚ und du hast doch so viele! Ein einziges herzliches Beinkleid‚ bitte! Es wäre‚ als würde für mich ein Wunder geschehen!« Sie schnappte nach Luft und fragte: »Was‚ auf Wiese gehen?« »Es heißt nicht was‚ sondern hä!« antwortete ich. Dann legte ich das herzliche Beinkleid in ihren Koffer und schwieg. Auf die Wiese gehen‚ auf Wiedersehen! Auf die Wiese kommen wir noch früh genug. Mein Freund Bernd vertrat allerdings eine Zerknirschung zelebrierende anmutige Position: »Die Guten sterben zuerst‚ man muß sich schämen‚ daß man noch lebt!« Vielleicht ist ganz hinten im Weltall irgendwo noch eine Blumenwiese? Wiesen haben etwas Wunderbares‚ gemäht und ungemäht‚ mit Schafen und ohne Schafe‚ mit Mäh und ohne Mäh. Am besten gefielen mir die einsamen Waldwiesen im Frühling. Es gibt keine universelle Übereinkunft‚ welche Wiese die wahre‚ schöne‚ gute und bedeutungsvolle sei. Für Kühe ist es die Liegewiese‚ für Wildschweine vielleicht die Sumpfwiese‚ für Kinder die Spielwiese‚ für mittellose Tote die grüne Wiese. Es ist erwiesen‚ für unsere ganz frühen Vorfahren‚ die jedoch mehr ritten und wanderten als fuhren‚ war es der Heilige Hain‚ dies war für sie die schönste Wiese. Hatte Liriope etwa Erinnerungen an eines ihrer früheren Leben‚ wollte sie mit mir einen Heiligen Hain besuchen‚ kam ihre innere Spiritualität plötzlich zum Tragen‚ eine überraschende innere Umformung der Seele? Logik und Mathematik sagen im Grunde nichts über unsere Welt aus‚ es handelt sich um reine Umformungsregeln. Aber wenn ein Herz die Wiese seines oft dunklen Träumens findet‚ so kann dies bedeutsam für das ganze weitere Leben sein‚ von einem Augenblick zum anderen. Eine einzige Ziege kann den schönsten Wiesengrund ruinieren‚ doch man muß im Leben lernen‚ darüber hinwegzusehen. Das Wort Wissenschaft stammt ja von dem Wort Wiesenschaft ab‚ als nämlich die Wissenschaftler noch Schaftstiefel trugen. Da hatte die Forschung noch mit der Wirklichkeit zu tun. Als sich das Wissen vervielfachte und die Wiesen immer größer wurden und das Holz immer knapper‚ erhöhte sich auch die Geschwindigkeit aller technologischen Prozesse‚ Wörter wie Wiesenschaft wurden immer schneller ausgesprochen und so sagt man heute Wissenschaft. Wir leben jetzt in einem sehr schnellen Zeitalter. Früher‚ als die Gummistiefel noch aus Holz waren und das Radio schwarzweiß‚ hatte man noch Zeit‚ das Leben zu genießen‚ doch die Zeit der Genossen ist ein für allemal vorbei‚ jedenfalls vorerst. Jetzt dringen wir ein in einen androidisch geprägten Kosmos des Erkennens. Wir verlassen den Bereich der alltäglichen Anschaulichkeit. Und so spürte ich‚ es wäre wieder an der Zeit‚ eine reiflich überlegte Frage zu stellen: »Wie fühlt man sich‚ wenn man die einzige gut aussehende Frau im Abteil ist?« Sie antwortete: »Absolut geil‚ mit Eiswürfeln! Was kucksten so komisch‚ wie kühlst du dich denn‚ wenn es heiß ist?« Auf einem Apfelplaneten mit einem Hörschaden zu leben war gewißlich nicht einfach. Am Ende des Relativismus wartet immer der Fundamentalismus. Eis ist in jedem Fall etwas Fundamentales. Die Sehnsucht der Eisberge nach der Südsee ist unbezwingbar‚ niemand kann sie aufhalten‚ niemand überreden‚ an Land zu bleiben. Neugierig schwimmen sie hinaus aufs Meer‚ um irgendwann geschmolzen zu sein. So ist es auch im Leben‚ wir geraten von einem Extrem ins andere‚ was man gerade hat‚ dies will man nach einer bestimmten Zeit nicht mehr. Dies sichert der Mode die Existenz. Mein Freund Bernd sagt: »Immer muß man sehen‚ was der Kuh aufs Auge paßt. Und wenn sie dann schon reinkommt am Wochenende mit ihrer bestickten Nylonschürze und ihrer hohen Stimmlage und sagt: Diesen leckeren Pferdeapfelkuchen habe ich selbst gebacken‚ dann weiß man‚ wofür man die ganze Woche gearbeitet hat. Diese unsrige Welt ist nicht logisch aufgebaut. Nachdem lange Zeit hindurch die Frage nach den Quellen der Erkenntnis heftig umstritten war‚ kann man heutzutage wenigstens sagen‚ wo sie nicht sind. Wenn ein Mann nach einem langen schweren Arbeitstag vor dem Fernseher sitzt und sein Bier trinkt‚ dann braucht er seine Ruhe. Diese simple Tatsache wird von der Hälfte der Menschheit nicht verstanden.« Irgendwie hat er recht‚ aber irgendwie hat er auch nicht recht. Wir müssen uns mit der Dreidimensionalität des Raumes‚ in dem wir leben‚ abfinden‚ auch hinter einem sehr flachen Horizont geht es noch weiter. Manches kann nicht mit Sätzen gesagt‚ sondern nur gezeigt werden. Sehen wir es einmal ganz nüchtern: Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem‚ worüber sie Macht ausüben. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe‚ als Substrat von Herrschaft. Das Gras herrscht auch auf der Wiese‚ aber eben irgendwie anders. Wahrscheinlich wird es wohl schon so sein: Eine Frau ist ein See und ein Mann ein Fluß. Die Partnerschaft stellt eine Verbindung von See und Fluß dar. Manche bauen einen Damm‚ hinter dem sie langsam austrocknen. Frauen‚ die verhärten‚ werden zu Männern zweiter Klasse. Die seismographische Genauigkeit der natürlichen Intuition ist verloren gegangen. Wir besitzen nicht nur unser individuelles Unbewußtes‚ wir tragen auch unser kollektives Unbewußtes mit uns herum‚ unser historisches Erbe befindet sich in jeder unserer Zellen. Eine Frau sollte man lieben‚ aber nicht versuchen zu verstehen. Wie heißt es so schön: »Leben ist wie zeichnen‚ nur ohne Radiergummi‚ und edel sei der Mensch‚ milchreich die Kuh.« Liriope hatte es sich bequem gemacht und begann Schokolade zu essen. Schokolade ist das einzige Mittel‚ welches in der nachkopernikanischen Zeit Geborgenheit im Kosmos vermitteln kann. Das Leben im Universum bekommt so wieder einen Sinn. »Kann ich auch ein Stück haben?« fragte ich Liriope. »Was«‚ fragte sie zurück‚ kranke Bienenwaben?« Ich nickte mit dem Kopf und deutete mit dem Finger nach draußen. »Was du alles siehst!« bemerkte sie anerkennend. Die Biene kann sich nicht selbst eine Antwort auf die Frage geben‚ woher sie kommt und wohin sie geht‚ nur wohin sie fliegt. Sie sammelt und weiß nicht‚ wer den Honig essen wird‚ und dies genügt ihr scheinbar. Begriffe wie Disziplin‚ Verantwortung und Ehre sind der Biene heilig‚ sie sind die Grundlage ihres Fleißes. Ihre Hauptquartiere sind verborgene‚ unterirdische Städte‚ von denen aus die Bienen ihre Aktionen zur Förderung des menschlichen Wohles steuern‚ indem sie Honig produzieren. Einige Bienen lieben die Menschen‚ einige stechen sie. Für jene‚ die die Menschen verachten‚ sind die Menschen nur Freßfeinde. Sie argumentieren‚ die Menschen nehmen uns immer unser Bestes‚ was durchaus der Wahrheit entspricht. Von der Wissenschaft bislang wenig beachtet und interpretiert ist die stetige Zunahme der räuberischen Pflanzen. Immer mehr Blumen schließen ihren Kelch‚ wenn sie von einer Biene aufgesucht werden. Sie entwickeln sich zu fleischfressenden Pflanzen‚ zu Venusfallen in äußerst verführerischen Varianten. Gleichzeitig entwickeln sie an ihren Stengeln bizarre Stacheln‚ zudem treiben sie Wurzeln aus‚ um sich zu vermehren. Dann verpuppen sich die Pflanzen und nach einem schweren Regenguß entfalten sie plötzlich farbige durchsichtige Flügel‚ entwurzeln sich‚ zerreißen das unterirdische Band zu ihren Artgenossen und fliegen davon‚ um Tausende Kilometer entfernt wieder heimisch zu werden. Sobald sie wieder verwurzelt sind entwickeln sich die Flügel zu Blättern zurück‚ die sich träge im Wind bewegen. All dies erklärt das Verschwinden der Bienen. »Übernachtest du auch in Prag?« fragte Liriope auf einmal. Ich antwortete: »Ja‚ ich esse auch gerne Quark.« Woraufhin sie entgegnete: »Dann finden wir beide diese Stadt stark.« Was würde Anton jetzt tun‚ dachte ich bei mir. Wahrscheinlich hatte er seinen gesamten Biervorrat in einem Taxi bereits leergetrunken‚ welches dem Zug hinterher raste‚ und der Fahrer würde sich fragen‚ ob er jemals auch nur einen Heller des Fahrpreises erhalten würde. Wer war schneller‚ der Zug oder das Taxi? Das Leben ist ein Hin und Her‚ ein Vor und Zurück‚ ein Morcheln und Murcheln. Wahrscheinlich kann der Mensch nur in der Morchelei überleben‚ und dies ohne zu wissen‚ was die Morchelei ist. Die Morchelei ist ein Gebilde‚ in dem immer ein Hauch großer Gedanken mitschwingt. Die Morchelei bildet die philosophische Grundlage zur Legitimation des Provisoriums der Welt. Nur mit Morchelei kann es die Menschheit schaffen‚ sich im Universum auszudehnen. Wir wissen nicht‚ was wir hierfür brauchen‚ sollten aber darüber nachdenken‚ was wir mitnehmen könnten. Auf jeden Fall Klaviere und Kühlschränke. Erst am Ende wird sich zeigen‚ was man dort draußen braucht und was nicht. In jedem Falle ist da draußen genügend Platz und es gibt bislang keinerlei Parkgebühren. Es gibt keine Transhumanität‚ Posthumanität‚ Panhumanität und keine Bahnhumanität. Andererseits‚ wer mit der Bahn verreist‚ muß immer mit dem Schlimmsten rechnen. Ehrlich gesagt‚ wer würde schon gerne mit der Bundesbahn durchs Universum reisen? Das Wort von der »Ewigen Verspätung« bekommt da einen ganz neuen Klang. Morchelei‚ alles Morchelei. Liriope gähnte‚ und dann sagte sie: »Ich glaube‚ ich werde an der nächsten Station aussteigen. In Prag am Bahnhof wartet bestimmt Anton auf mich. Ich habe keine Lust‚ ihm dort zu begegnen. Er soll darüber nachdenken‚ wie fies er gewesen ist.« Und dann sagte sie einen umwerfenden Satz‚ bei welchem ich nun meinerseits dachte‚ ich hätte mich verhört. Sie sagte: »Ich bin nicht die Zukunft‚ aber vielleicht bin ich eine Zukunft.« Der Zug hielt und sie stieg aus. Ich öffnete das Fenster und sah auf den Bahnsteig. Im Vorübergehen schaute sie zu mir hoch und sagte: »Ich mach dann mal den Pfeil!« Ich grüßte zurück: »Liriope denn bis hope!« Sie verschwand im Dämmerlicht. Ein Teilchenbeschleuniger hätte sie nicht schneller von diesem Ort fortbringen können. Langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Links und rechts der Bahnlinie standen Häuser. Auf der linken Seite befand sich eine breite Straße‚ die nach Prag führte. Am Ortsausgang war eine Pension. Ein weißer Pfeil auf blauem Grund deutete den Weg an: »Pension Helena Blavatsky«. Genau neben dem Ortsausgangsschild stand ein Taxi mit qualmendem Kühler. Anton stand mit dem Taxifahrer neben dem Auto und trank Bier. Manchmal kreuzen sich die Linien im Leben auf eine überraschende Weise. Ausgerechnet hier hatte das Auto schlapp gemacht. Wer rechnet sich so etwas aus? Werden und Entwerden. Da öffnete sich die Abteiltür‚ der Schaffner trat noch einmal ein‚ um meine Fahrkarte zu entwerten. »In dreißig Minuten erreichen wir die Endstation«‚ sagte er. Genauso wie alle physikalischen Einheiten einer Ureinheit im Big Bang auseinandergeschleudert werden und sich wiederum im Big Crunch zusammenfinden‚ so geht es auch im Leben zu. Am Ende trifft man auch auf all jene‚ auf deren Wiedersehen man herzlich gerne verzichtet hätte. Diesmal hatte es Liriope getroffen. Es stellt sich die Frage‚ wer denn so was arrangiert. Die Antwort ist einfach: »The Cief Director for a high Level Bullschit.« Sollte mir Liriope noch einmal begegnen‚ so würde ich zu ihr sagen: Hallo‚ lange nicht gesehen!« Und wahrscheinlich würde sie antworten: »Ja‚ meine Schuhe sind bequem.« Und dann würde ich sie fragen. »Hast du Lust mit mir zum Bäcker zu gehen‚ wir könnten dann was essen und eine heiße Schokolade trinken?« Dann gäbe es zwei Möglichkeiten. Entweder ihr würde die Hand ausrutschen oder sie würde sagen: »Okay‚ warum nicht‚ der Tag ist noch jung‚ gegen ein bißchen Sex habe ich nichts einzuwenden‚ aber auf Kuchen und Schokolade habe ich heute keinen Bock.«

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